Wählen wäre Selbstentwürdigung – Teil I: Zur Erosion der repräsentativen Demokratie

 In Stellungnahmen

Positionspapier zur Bundestagswahl 2013

 

Teil I: Zur Erosion der repräsentativen Demokratie

 

Im Gegensatz zu ihrer vordergründigen Propaganda und im Einklang mit den Mainstreammedien haben die politischen Funktionsträger Deutschland längst in eine „Postdemokratie“ verwandelt und den demokratischen Souverän weitgehend entmachtet. Zwar existieren formal-demokratische Institutionen wie Parlamente, freie Wahlen, scheinbar unterschiedliche Meinungsbildungsinstanzen etc. Aber das Handeln von Regierung und Opposition, die in zentralen Fragen und in ihren Programmatiken zunehmend ununterscheidbar geworden sind, wird primär durch einflussreiche ökonomische und religiöse Lobbygruppen bestimmt. Auf diese Weise bewegt sich die Gesellschaft zurück in vormoderne Zeiten, in denen privilegierte und vom Volk abgehobene „ständische“ Machtgruppen den politischen Prozess unter sich regeln.

Demgegenüber fungieren die ausgegrenzten Wahlbürger nur noch als pseudolegitimatorisches Stimmvieh und passive Mehrheitsbeschaffer. Ihnen, den weitgehend entmündigten „Kunden“ der Parteien, mehr direktdemokratische bzw. plebiszitäre Entscheidungsmöglichkeiten im Rahmen öffentlich-rationaler Argumentations- und Diskussionsprozesse einzuräumen, wird als „Populismus“ abgewehrt und verweigert. Tatsächlich aber sind es die etablierten (Bundestags-)Parteien selbst, die in Form einer niveauarmen Wahlreklame einen Vulgärpopulismus unterster Schublade, d. h. unter Stammtischniveau, betreiben.

Echte Demokratie setzt mindestens zwei Bedingungen voraus: Erstens die Möglichkeit zur chancengleichen Teilnahme am öffentlich-politischen Diskurs und zweitens die Schaffung von inhaltlichen und argumentativen Voraussetzungen demokratischer Partizipation. Tatsächlich aber ist eine systematische Erosion der „demokratischen Öffentlichkeit“ durch ökonomische und politische Vermachtung und Hierarchisierung der Zugänge zur „freien öffentlichen Rede“ zu konstatieren. D. h.: Eine reale Möglichkeit zur gleichberechtigten rational-argumentativen Teilnahme am medial vermittelten öffentlichen Diskurs wird durch informelle Zulassungs- und Selektionskartelle blockiert. Als deren offizielle Exekutivorgane bzw. Regulierungsinstanzen agieren diverse Beiräte, verfilzte Aufsichtsbehörden, privatkapitalistisch regulierte Chefredaktionen der oligopolistisch strukturierten Printmedien, staats- und parteinahe Stiftungen, undurchsichtige Preisverleihungsgremien etc.

Hinzu kommt als aktuelles Leitprinzip der politisch-medialen Erzeugung herrschaftskonformer Meinungsbildung die postmoderne „Political Correctness“. Darunter ist ein politisch wirksam werdendes sprachliches und ideologisches Dressurinstrument zu verstehen, das mit gleichschaltendem Effekt festlegt, welche Themen, Begriffe, artikulierten Denkhaltungen, Deutungs- und Bewertungsmuster, Forderungen etc. gesellschaftlich erwünscht und erlaubt sind und welche als unerwünscht und verpönt gelten. Die öffentliche Kommunikation wird damit als freier kritischer Argumentationsaustausch weitgehend suspendiert. An seine Stelle tritt eine Art „diskursiver Tugendterror“:

„Wer sich diesen zuteilenden Diskursregeln nicht unterwirft, bestimmte herrschaftskonforme Signalbegriffe im Sinne von sprachlichen Demutsgesten nicht verwendet, grundsätzliche Kritik am Systemganzen erkennen lässt, Gegen-Begriffe einführt et cetera, bleibt vom herrschaftlich kontrollierten Diskurs ausgeschlossen und wird – gemäß der jeweiligen konkreten Herrschaftsformen – als ‚Ketzer’, ‚Ungläubiger’, ‚Kommunist’, ‚vaterlandsloser Geselle’, ‚Klassenfeind’, ‚Volksschädling’, ‚Rassist’ et cetera verpönt und stigmatisiert.

Das Anheften von Etiketten ohne rational überzeugende Begründung ist untrennbarer Bestandteil von Diskursherrschaft – auch in nichttotalitären Herrschaftssystemen wie dem postdemokratischen Kapitalismus. ‚Politische Korrektheit’ im Allgemeinen ist demnach sprachlich domestizierte und öffentlich ausgedrückte Herrschaftskonformität via Diskursanpassung.“[1]

Neben der „politisch-korrekten“ Domestizierung der öffentlichen Debatte ist ein zunehmender Niveauverlust der medialen Kommunikationsinhalte und -formen zu konstatieren. Hierfür sind insbesondere zwei verschränkte Einflussfaktoren verantwortlich: Zum einen die zunehmende Verwandlung von Information/Nachricht in eine den kapitalistischen Marktgesetzen unterworfene Ware mit dem Effekt der verwässernden Vermischung von Information und Unterhaltung. Dabei ersetzt die so entstandene Infotainment-Industrie zum anderen logische Argumentation und rationalen Diskurs durch manipulative Überredung, entpolitisierende Betroffenheitsrhetorik und demoskopische Meinungsvermarktung. Der aufklärte und mündige Citoyen wird „stillgelegt“ und durch chaotische Diskutanten in verworrenen Talkshows verdrängt. Auf diese Weise werden tendenziell immer mehr frustrierte und infolgedessen entpolitisierte Staatsbürger produziert, die weder politisch-demokratische Teilhabekompetenzen und -motivationen aufweisen noch über reflektierte und halbwegs wissensbasierte politisch-weltanschauliche Überzeugungen verfügen[2]. Ohne die neue Form der „politisch-korrekten“ Entmündigung überhaupt wahrzunehmen, reduziert sich für diesen Teil der Gesellschaftsmitglieder „Demokratie“ im Wesentlichen darauf, zwischen Aldi, Lidl und Rewe bzw. generell zwischen Konsumangeboten frei auswählen zu können: „Ich shoppe, also bin ich …“[3].

Schon vor diesem Hintergrund, der noch von inhaltlichen und interessenpolitischen Aspekten abstrahiert, wird deutlich, warum die Nichtwähler bei der Bundestagswahl 2009 beinahe doppelt so stark waren wie die Wähler der SPD (10 Millionen) und zwei Millionen stärker als die Wähler von FDP (6,3 Millionen), Linkspartei (5,2 Millionen) und Grünen (4,6 Millionen) zusammen. Auch die CDU als stärkte Partei landete mit ihren 14,7 Millionen Wählern abgeschlagen hinter den Nichtwählern. Ein ähnliches Bild zeigte sich bei den folgenden Landtags- und Kommunalwahlen. Bei der Kommunalwahl in Schleswig-Holstein am 26. Mai 2013 fiel die Wahlbeteiligung von 49,4% (2008) auf 46,7% und damit auf den historischen Tiefstand. In der Landeshauptstadt Kiel lag sie sogar nur bei 37,2%.[4]

Darüber hinaus sinkt laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung auch der Glaube an die Selbstheilungskräfte der Märkte. „Dagegen plädierten acht von zehn Bundesbürgern als Konsequenz aus der Krise für eine neue Wirtschaftsordnung mit stärkerer Betonung von sozialem Ausgleich und Umweltschutz (…) Auch stimmten 80 Prozent der Bundesbürger der Aussage zu, dass jeder Einzelne sich fragen müsse, ob immer mehr Wirtschaftswachstum das Wichtigste sei.“[5]

(Osnabrück, 2. September 2013)

 

[1] http://www.heise.de/tp/artikel/36/36618/1.html

[2] Wurden früher große Hoffnungen in den Politisierungseffekt des Internets gesetzt, so zeigten Studien im Gegensatz dazu, „dass das allgemein geringe Interesse an politischen Informationen vor allem auf das Internet zutreffe. Lediglich 6 Prozent bekundeten ein ‚sehr starkes’ Interesse an politischen Informationen im Internet, 12 Prozent ein ‚starkes’. 83 Prozent gaben an, beim Surfen ‚kaum’ oder ‚gar nicht’ an politischen Informationen interessiert zu sein. Der Bezug politischer Information findet vor allem über das Fernsehen (stark:42 Prozent; ‚sehr stark’: 24 Prozent) sowie über Tageszeitungen statt (44 bzw. 20)“ (Decker u. a. 2013, S. 116f.).

[3] Vgl. Zygmunt Baumann: Leben als Konsum. Hamburg 2009.

[4] Vgl. Neue Osnabrücker Zeitung vom 27.5.2013, S. 1.

[5] Kölner Stadtanzeiger vom 17.8.2012, S. 10.

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