Zwischen wahlpolitischer Delegitimierung und dem Verfall des öffentlichen Diskurses
Zur politisch-kulturellen Eröffnungsbilanz der schwarz-gelben Krisenverwaltung
Auch die in ihrer naiven Penetranz und aufdringlichen Peinlichkeit kaum noch zu überbietende Kampagne zur Mobilisierung von Wählern (egal für welche systemtragende Partei) war im Endeffekt zum Scheitern verurteilt. Trotz eines riesigen Aufgebotes überwiegend völlig inkompetenter und deplazierter „Prominenter“ hat sich die vernünftigste Gruppe in Deutschland nicht korrumpieren lassen und ist der Bundestagswahl 2009 ferngeblieben. Dieser Verweigerungsakt signalisiert eine gravierende Aufkündigung von politischer Systemloyalität und wiegt – angesichts fehlender wählbarer Alternativen – als kritische Handlung schwerer als zahlreiche vermeintliche Protestaktivitäten: „Von uns keine müde Mark für die Finanzierung von Parteien, die wir ablehnen bzw. die wir nicht als Vertreter unserer Interessen und Überzeugungen ansehen“; „Agenda 2010, Gesundheits- fonds, marktradikale Privatisierung und Gebrauchswertverschlechterung öffentlicher Dienstleistungen, Einführung von Islamunterricht und Hofierung einer ultrareaktionären und menschenrechtsfeindlichen religiösen Herrschaftskultur etc. – nicht in unserem Namen“; „Auf eure Simulation von längst abhanden gekommener Problemlösungsfähigkeit fallen wir nicht (mehr) herein“, „Wir entziehen euch die Möglichkeit, für euer Handeln auch noch unsere Stimme legitimatorisch auszubeuten“ etc. Mit 18,1 Millionen sind die Nichtwähler die größte „Partei“ geworden und konnten damit – gelangweilt vom künstlich-hysterischen Medienrummel – für sich den eigentlichen Wahlsieg verbuchen.
18,1 Millionen Nichtwähler sind beinahe doppelt so stark wie die Wähler der SPD (10 Millionen) und zwei Millionen stärker als FDP (6,3 Millionen), Linkspartei (5,2 Millionen) und Grüne (4,6 Millionen) zusammen. (So viel zum Gewicht der „wahren“ Opposition.) Auch die CDU als stärkte Partei landet mit ihren 14,7 Millionen Wählern abgeschlagen hinter den Nichtwählern. Zusammengerechnet ist die schwarz-gelbe Wählerklientel mit 21 Millionen zwar (noch) stärker als die Gruppe der Nichtwähler, aber die Kanzlerin wird ohne die Unterstützung von zwei Dritteln der Wahlberechtigten regieren.
Nichtwählen impliziert die Einsicht oder doch zumindest die Intuition, dass angesichts der systemproduzierten Krisen- und Problempotentiale mit diesen systemtragenden Parteien und Politikern kein Staat zu machen und keine bessere Zukunft zu gewinnen ist. Nichtwählen ist deshalb kein Akt der Gleichgültigkeit oder desinteressierter Politikverdrossenheit, sondern in vielen Fällen ein Akt der reflektierten und hochpolitisierten geistig-moralischen Selbstbehauptung angesichts einer trostlosen Handlungskonstellation, die weder eine positive (programmatische) Identifikation mit einer der etablierten Parteien noch realdemokratische Plebiszite zulässt. Wählen wiederum ohne programmatisch-konzeptionelle Zustimmung ist ja keinesfalls ein Ausdruck staatsbürgerlicher Reife, ja noch nicht einmal koalitionstaktischer Bauernschläue, sondern eher der verinnerlichte Überrest aus einer autoritären obrigkeitsstaatlichen Gehorsamhaltung: Wenn der Kaiser/Führer ruft, dann sei folgsam (Wählen als Pflicht = Wahlzwang)[1].
Wer sich einmal als Nichtwähler offensiv mit Leuten unterhält, die noch gewählt haben und diese um Rechenschaftslegung bittet, wird schnell bemerken, dass dahinter in vielen Fällen gar keine Identifikation mit einer bestimmten Partei bzw. deren Programm steckt, sonder eine gedrechselte und verdruckste Überlegung, irgendetwas noch Schlimmeres verhindern zu wollen: Gegen die Schwarzen, gegen die größten Banausen der Islamophilie, gegen Hartz IV (bei manchen heißt das: für FDP-Bürgergeld!) etc. Programmatische Identifikation (wie im Falle von niedergelassen Ärzten, die angeblich zu 54% FDP wählen) sieht jedenfalls anders aus. Rechnet man diese Masse „halbseidener“ Wähler den Nichtwählern hinzu, dann wird schnell klar, wie morsch die geistig-moralische Konstitution der postdemokratischen Deutschland AG eigentlich ist.
Deshalb noch einmal: Wer das Platzen der Spekulationsblase mit der Auslösung einer inflationsfördernden Schuldenlawine auf Kosten der Steuerzahler bekämpft, durch eine ungebremste Privatisierung und Gebrauchswertverschlechterung öffentlicher Dienstleistungen sowie die Förderung profitlogischer Prinzipien Krankenhäuser und Altenheime zu Brutstätten tödlicher Keime bzw. Orten der Verwahrlosung degeneriert, Marktanbetung mit Freiheit gleichsetzt, die Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen duldet und fördert, eine unverantwortliche (Des-)Integrationspolitik durch falsche Toleranz gegenüber zugewanderten menschenrechtsfeindlichen Herrschaftskulturen betreibt, wie die FDP als Unterstand der Muslimverbände bzw. Filiale der deutsch-arabischen und deutsch-iranischen Handelsgesellschaften oder wie die „Linkspartei“ als fünfte Kolonne Mullah Omars agiert, sollte nicht auf die Stimme von intellektuell und moralisch intakten Leuten hoffen dürfen. Wer diese Parteien wählt, verschafft ihnen mit seiner Stimme Legitimation und erweist ihnen Loyalität und Bestätigung. Das sollte man nicht tun!
Während das Internet sowohl gegenläufigen und nonkonformen, aber auch kriminellen und dekadenten Aktivitäten freien Raum gewährt und insofern ein ambivalentes Medium darstellt, fungieren die „klassischen“ privatkapitalistisch und staatlich gelenkten und beherrschten Print-, Ton- und Bildmedien zugleich als gewährleistende Zurichtungs- und Regulierungsinstanzen der postdemokratisch deformierten Öffentlichkeit. Sie greifen zwar gesellschaftliche Problemlagen auf, desartikulieren diese aber sofort durch zerstückelnde/zusammenhangsblinde Behandlung und „schiefe“ bzw. inadäquate Inhalte, „politisch-korrekte“ Zensurmaßnahmen sowie oberflächlich-unsystematische Darstellungs- und Kommunikationsmethoden. Alles wird auf das Niveau von „zerredenden“ und zum Teil sehr primitiven Talkshows heruntergebracht, die eher desorientieren statt problemrelevante Klarsicht zu fördern. Hinzu kommt, dass die Zugangschancen zu diesen Veranstaltungen nicht demokratisch, sondern weitgehend monopol-feudalistisch gesteuert werden (mit der Ausnahme anarchischer Katastrophenberichterstattung). So findet – ganz im Einklang mit der spätkapitalistischen „multikritischen“ Systembeschaffenheit – weder ein rationaler noch ein herrschaftsfreier Diskurs statt. Ganz im Gegenteil: Mit dieser verzerrrten/verzerrenden Massenkommunikation wird das Legitimations-Defizit-Syndrom (LDS) spätkapitalistischer Krisengesellschaften auf der Systemebene der „Öffentlichkeit“ passgerecht abgerundet.
Das musste gerade eben der zwar ein wenig ungeschickt und polemisch überspitzt, aber in den Grundinhalten durchaus zutreffend argumentierende Thilo Sarrazin als neuestes Versuchskaninchen am eigenen Leib erfahren. In einem längeren Interview in der Zeitschrift „Lettre International“ hatte er mit Blick auf die soziale Realität in Berlin auf den Tatbestand hingewiesen, dass die islamisch sozialisierten Zuwanderer aus der Türkei und arabischen Ländern besonders schlecht integriert sind, eine große Zahl von dauerhaften Transfereinkommensbeziehern sowie – aufgrund ihrer patriarchalisch-traditonalistischen Familien- und Geschlechterverhältnisse – eine überdurchschnittlich hohe Reproduktionsrate aufweisen, ihre (weiblichen) Nachkommen in vielen Fällen unters Kopftuch zwingen und oftmals eine ausgesprochene Integrationsresistenz offenbaren.[2]Wer könnte diese Aussagen – im Falle der Existenz eines rational-demokratisch funktionierenden Diskurses – ernsthaft bestreiten, ohne sein Gesicht als anerkennungsberechtigter vernünftiger Citoyen aufs Spiel setzen zu wollen? Natürlich niemand[3].
Ganz anders aber funktionieren die Spielregeln in einer postdemokratisch deformierten und spätkapitalistisch kommandierten Öffentlichkeit. Hier geht es nicht um die Annäherung an Wahrheit, sondern um interessengeleitete Meinungs- und Stimmungsmanipulation: Ein geldadeliger Ayatollah der Bundesbank verkündet eine Fatwa, in der die Unbotmäßigkeit kritischer Aussagen im Rahmen einer ebenso so leeren wie wohlfeilen Phrasenansammlung festgestellt und eine Ausgrenzungsandrohung ausgesprochen wird. (Wer als Höfling dazu gehören will, muss eine bestimmte Etikette einhalten bzw. einen bestimmten Korpsgeist zeigen.) Sofort gehen die entsprechend abgerichteten Kettenhunde des medialen Herrschaftsapparates von der Leine und organisieren die vom Chef der Bundesbank im Geschäftsinteressen des deutschen Kapitals nahegelegte symbolische Auspeitschung in ihren jeweiligen Organen. Eilfertige Fundamentalisten in der SPD fordern umgehend den Parteiausschluss Sarrazins, und selbstverständlich ermittelt postwendend ein deutscher Staatsanwalt gegen Sarrazin; ein Mitglied eben jener Funktionsgilde, die übelste Verleumdung von wissenschaftlicher Islamkritik als „Meinungsfreiheit“ weißwäscht und für diese Gesinnungsjustiz auch noch „Anerkennung“ einfordert. Schlussendlich treten dann noch die perfiden Moralkeulenschwinger aus dem Lager des Zentralrats der Juden und der Türkischen Gemeinde hervor, stellen Sarrazin mit Hitler, Goebbels und Göring in eine Reihe und fordern dessen Rücktritt. Dabei sind es Funktionäre wie Kramer und Kolat, die mit ihren unsäglichen Auftritten, inflationären Nazivergleichen und polemischen Entgleisungen mehr zur Erzeugung und Stabilhaltung von antijüdischen und antitürkischen Einstellungen beitragen als marginalisierte rechtsradikale Gruppen.
Ganz offensichtlich geht es bei dieser sorgfältig durchgeführten symbolischen Auspeitschung Sarrazins darum a) den islamischen Herrschaftsträgern und morgenländischen Geschäftspartnern und Kapitalanlegern Genugtuung zu verschaffen und b) der Bevölkerung zu demonstrieren: „Wenn Du es wagst, Muslime zu kritisieren und damit unsere diskreten Abmachungen mit deren Protagonisten zu stören, wirst Du als „Rassist“ oder „Fremdenfeind“ fertiggemacht, ausgegrenzt und den besagten Kettenhunden der Mainstreammedien, etablierten Parteien und Religionsverbänden zum Fraß vorgeworfen. Sei also lieber still und übe dich in duldsamer Hinnahme und braver Alimentierung des Imports einer repressiven und autoritären Herrschaftskultur“.
Menschen bzw. potentielle (Nicht-)Wähler, die aufgrund ihrer Alltagserfahrungen und ihres (weder rechts- noch „links“-ideologisch unverbildeten) Verstandes den Aussagen Sarrazins im Kern zustimmen, mögen sich zum Teil von der öffentlichen Hetzkampagne abschrecken lassen und haben zum Teil Angst davor, von den faschistoiden Sittenwächtern der politisch-korrekten Meinungsdiktatur beschimpft zu werden. Aber gleichzeitig empfinden sie zunehmend politischen Ekel vor den Trägern der spätkapitalistisch verordneten Tabuisierung zuwanderungsbedingter Problemlagen und der Diffamierung islamkritischer Einstellungen. Auch hier liegt eine Wurzel für die Zunahme der Nichtwähler um sieben Prozent im Vergleich zur Bundestagswahl 2005. Wäre es nicht an der Zeit, sich entsprechend aufzustellen und dieses Potenzial in kritisch-emanzipatorischer Form anzusprechen, anstatt es den rechten und pseudolinken Demagogen zu überlassen?
(Osnabrück, Oktober 2009)
[1] Tatsächlich wurde von einem SPD-Politiker allen Ernstes ein Strafgeld für Nichtwähler in Höhe von 50 Euro ausgelobt.
[2] Wir haben diesen zentralen integrationspolitischen Problemgegenstand in einer Reihe von Beiträgen sehr eingehend abgehandelt. Zum Beispiel: Hartmut Krauss: Gescheiterte Integration als Katalysator gesellschaftlicher Destabilisierung. In: HINTERGRUND IV-2008, S. 15-36.
[3] Bezeichnenderweise lautete das Abstimmungsergebnis der Talkshow „Hart aber fair“ zur Frage „Darf man so zugespitzt formulieren, wie Sarrazin es getan hat?“ folgendermaßen: Ja: 87%, Nein: 13%. Ansonsten war diese Sendung – einschließlich des unsäglich inkompetenten Faktenchecks am folgenden Tag – ein Paradigma für die von uns beklagte Desartikulation gesellschaftlicher Problemlagen. So wurde einmal mehr verharmlost, verdreht und weichgespült. Weder wurden konkrete Fakten und empirische Daten präsentiert noch halbwegs systematisch gefragt und geantwortet. Das ist auch SPIEGEL-Online nicht entgangen: „Man stelle sich vor, ein türkisches Mädchen, mit oder ohne Kopftuch, hätte einmal berichtet, wie ihr Vater und ihre Brüder verhindern, dass sie eine bestimmte Ausbildung macht, sich so oder so kleidet oder einen deutschen Freund hat. So herrschte am Schluss, wie üblich, Friede, Freude, Eierkuchen, Pardon: Pflaumenkuchen! Den kann Hans-Christian Ströbele nämlich besonders gut backen.“ http://www.spiegel.de/kultur/tv/0,1518,653874,00.html