Der Islamismus als religiöse Artikulation einer totalitären Bewegung

 In Analyse der islamischen Herrschaftskultur
  1. Der Islamismus als (neo-)totalitärer Bewegungs- und Tätigkeitskomplex
  2. Der Islam als religiöse Herrschaftsideologie und Anknüpfungsgrundlage des Islamismus
  3. Der Islamismus als regressive Widerspruchsverarbeitung
  4. Grundelemente der islamistischen Ideologie

Fazit

Zitierte Literatur

 

  1. Der Islamismus als (neo-)totalitärer Bewegungs- und Tätigkeitskomplex

Im öffentlich vorherrschenden Diskurs, wie er in den Medien konstruiert und reproduziert wird, erscheint der Islamismus primär als ‚Terrorismus’ bzw. als spezifische Anhäufung terroristischer Anschläge durch islamisch motivierte Tätergruppen. Demgegenüber wird der Islam als ‚eigentlich’ „friedliche und tolerante Religion“ beschworen“ und damit unterstellt, dass die islamisch motivierten Terrorakteure im Grunde Verfälscher und Missbraucher einer wesensmäßig harmlosen Religion seien. Doch tatsächlich lässt sich weder der Islamismus auf Terrorismus reduzieren, noch kann der inhaltliche Zusammenhang zwischen Islam, Islamismus und islamisch begründetem Terrorismus verleugnet werden. Denn zum einen zerschneidet die entgegensetzende Legende „Guter Islam/Böser Islamismus“ sowohl die religiös-dogmatischen als auch die kulturell-historischen Anknüpfungsverhältnisse und Entwicklungszusammenhänge und trennt damit den Islamismus auf künstliche Weise von seinem ideellen und sozialgeschichtlichen Nährboden. Zum anderen bleibt in Form der weitestgehenden Fixierung auf die terroristische ‚Außenseite‘ der Islamismus als funktionsteiliger Gesamtkomplex unbegriffen. Auch das führt im Endeffekt zu einer gefährlichen Unterschätzung bzw. Fehleinschätzung des Phänomens.

Im Folgenden wird mit dem Begriff ‚Islamismus’ ein (neo-)totalitärer Bewegungs- und Tätigkeitskomplex bezeichnet, der sich in vier wechselseitig verbundenen Haupterscheinungsformen präsentiert:

1) als globales Netzwerk terroristischer Zellen samt logistischer Infrastruktur;

2) als alltagspolitisch agierende und organisierte Massenbewegung in Gesellschaften mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit;

3) als staatlich etabliertes religiös-totalitäres Herrschaftssystem (Iran, Sudan, das frühere afghanische Talibanregime) oder informelle regionale Schreckensherrschaft (Al-Shabaab-Milizen in Somalia[1] oder von den Taliban kontrollierte Regionen in Pakistan und Afghanistan);

4) als expansiv ausgerichtete Diasporakultur in den westlichen Einwanderungsländern.

Die ‚übergreifende’ Klammer bzw. vermittelnde Basis dieses Komplexes bildet die islamistische Ideologie/Weltanschauung als subjektprägendes Bedeutungssystem (Einheit von Wirklichkeitsinterpretationen, Wertungen, Vorschriften und Handlungsanweisungen).

Die interkontinental vernetzten Terrorgruppen fungieren lediglich als ein – wenn auch spektakuläres – Funktionsmoment innerhalb dieses objektiv arbeitsteilig gegliederten und strategisch differenzierten Tätigkeitskomplexes. Im Rahmen dieses Gesamtzusammenhangs bildet die alltagspolitisch wirksame islamistische Massenbewegung mit ihren Wohltätigkeitseinrichtungen, Spendenvereinen, logistischen Strukturen, Koranschulen, Überwachungs- und Sanktionsmilizen etc. ein mindestens ebenso bedeutsames und bedrohliches Potential. So haben die Islamisten in den letzten Jahren zum Beispiel in Marokko, Pakistan, der Türkei und Palästina große Wahlerfolge errungen; „in den meisten arabischen Ländern“, so Perthes (1999, S. 144) bereits vor 12 Jahren, „haben islamistische Parteien … eine Wählerbasis von 15-30 Prozent oder mehr und stellen einen ernstzunehmenden massenpolitischen Faktor dar.“[2]

Tendenziell bedeutsamer und bedrohlicher noch als seine ‚bombenterroristische’ Seite ist die alltagsdiktatorische bzw. ‚sittenterroristische’ Praxis des Islamismus. Diese trat bislang in besonders abstoßender Weise in der religiösen Barbarei der Taliban-Herrschaft zu Tage, bietet aber aktuell reichhaltiges Anschauungsmaterial in einflussreicheren islamisch legitimierten Diktaturen wie dem Iran oder Saudi-Arabien. In diesen Ländern und in den islamistisch dominierten Sektoren zahlreicher anderer Staaten mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung herrscht die absolute Normsetzung der menschenrechtswidrigen Schari’a, die humane Grundregeln wie Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung, weltanschaulich-moralische Selbstbestimmung etc. mit Füßen tritt und die unterworfenen Menschen der repressiven Überwachungs- und Kontrollmacht von Religionspolizei, Koranschulen, reaktionären Geistlichen, patriarchalischen Großfamilien sowie paramilitärischen Banden von ‚Sittenwächtern’ und Denunzianten ausliefert.

Im Gegensatz zur medialen Standardbehauptung, wonach die gewalttätigen Djihadisten den Islam für die Durchsetzung ihrer Machtziele gezielt missbrauchten, handelt es sich bei den islamistischen Terroristen und Selbstmordattentätern keinesfalls um Akteure, die ihre Religion strategisch bewusst verfälschen und zweckentfremden, also im Sinne eines vorsätzlichen Betrügers vorgehen. Vielmehr sehen wir hier Menschen am Werk, die subjektiv zutiefst religiös überzeugt sind und ihre Glaubensauslegung für die ‚einzig wahre’ halten. Das objektiv Verhängnisvolle besteht darin, dass sich sehr wohl aus dem Koran und der Sunna Aussagen und ‚Vorbilder’ ‚herausholen’ lassen, die ihr Tun begründen und rechtfertigen.

  1. Der Islam als religiöse Herrschaftsideologie und Anknüpfungsgrundlage des Islamismus

Wer vom Wesen des Islamismus reden will, darf über die inhaltliche Beschaffenheit des Islam nicht schweigen. Dabei ist zunächst folgender Sachverhalt hervorzuheben:

Während der Islam in der deutschen Öffentlichkeit zumeist in realitätswidriger Weise nur als eine Religion (im Sinne eines Paradigmas frommer Lebensführung) vorgestellt wird, fungiert er tatsächlich nicht bloß als ‚Glaubenssystem’, sondern als eine ganzheitlich-absolutistische, religiös artikulierte Weltanschauungslehre mit einem eigenen Rechtssystem, einer integralen politische Ideologie und einem staatlichen Ordnungskonzept. Damit entfaltet er seine Wirkungsmacht als kulturell-normativer Code eines spezifischen autoritär-hierarchischen Herrschaftsmodells bzw. als religiös-kulturelles System, dessen Inhalte eine prämoderne Herrschaftsordnung festlegen. Der Islam ist folglich nicht einfach ein religiöses Glaubenssystem sondern vielmehr ein gesellschaftlich allumfassend wirksames normatives Ordnungssystem.

Werfen wir nun einen genaueren Blick auf die einzelnen Knotenpunkte dieses herrschaftsbegründenden Systems:

1) Die herrschaftliche Geltungsmacht des Islam besteht zunächst einmal ganz grundlegend darin, den Menschen auf die Rolle eines gehorsampflichtigen Gottesdieners festzulegen. D. h: Der Mensch soll sich in seiner Lebensführung ganz und gar auf die Hingabe an Allah konzentrieren und sich dessen offenbarten Willen unterwerfen. Im Koran Sure 51, Vers 56 heißt es: „Ich habe Dschinnen und die Menschen nur geschaffen, damit sie mich verehren“ (Sure 51,56). Der ganze und einzige Lebenssinn des Menschen ist folglich absolut gehorsamer Gottesdienst bzw. Gottesverehrung, die sich fortlaufend in der alltäglichen Befolgung von Vorschriften in allen Lebensbereichen erweisen und bewähren muss. Diese Ineinssetzung von persönlichem Lebenssinn und unterwürfiger Gottesverehrung verkörpert der Islam in besonders aufdringlicher und bedrohlicher Gestalt. Dabei tritt der Islam als ein System von ewigen, unveränderlichen Werten/Normen und daran ausgerichteten Handlungen auf, denen eine absolute Geltungsmacht zukommen soll.

2) Die normative Formierung des Einzelnen zu einem treu ergebenen Gottesknecht wird im islamischen Glaubenssystem ausgiebig belohnt durch die Teilhabe an der Gemeinschaft von Rechtgläubigen, die zur Herrschaft berufen sind. Somit ist die Bezeugung der Gottesknechtschaft im sich periodisch wiederholenden Akt der Niederwerfung nur die eine Seite der muslimischen Subjektivität (der Teil des ‚Unterworfenseins’). Die andere, weltlich-repressive, ist damit untrennbar verknüpft. So dient nämlich die rituell bekundete und normativ praktizierte Gottesunterworfenheit zugleich als Legitimationsgrundlage für die Ausübung von Herrschaft gegenüber ‚den Anderen’ (der Teil des Bestimmenden): Wer sich Gott pflichtgemäß unterwirft ist bestimmungs- und herrschaftsberechtigt gegenüber dem ‚pflichtuntreuen’ Teil der Menschheit. Die spezifische Ambivalenz des islamischen Subjekts erscheint demnach als dialektische Verbindung von Gottesknechtschaft (Unterworfenheit) und Befehlsanspruch (Herrschaftsanmaßung). So setzt sich der Islam in seiner Selbstbespiegelung als letztgültige und damit einzig wahre Religion. Während in der Nachfolge von Abraham Moses als Überbringer der Thora und Jesus als Überbringer des Evangeliums aufgetreten sind, ist der nach ihnen kommende Prophet Mohammed als Überbringer des Koran dadurch ausgezeichnet, dass er als letzter die endgültige, umfassende, einzig wahre und vollendete Offenbarung von Allah empfing und somit Geltung als „Siegel der Propheten“ beansprucht. Demnach hat sich Gott vermittels Mohammed im Koran abschließend und kategorisch geoffenbart. Daraus wird dann der herrschaftliche Geltungsanspruch des Islam als der einzig „wahren“ und überlegenen Religion abgeleitet und mit der religiösen Pflicht zur Islamisierung verbunden, also der weltweiten missionarischen Verbreitung/Durchsetzung des Islam. Diese Idee des ‚Taghallub’, die gleichermaßen Dominanz und Überlegenheit bedeutet, bildet die zentrale Basis der islamischen Weltanschauung. Folgerichtig akzeptiert das islamische Glaubensbekenntnis auch keine interkulturelle Gleichberechtigung, sondern impliziert die Forderung nach Unterordnung/Unterwerfung der Anders- und Nichtgläubigen. Entsprechend kann der siegreiche Islam Minderheiten oder generell „die Anderen“ nur im Zustand des Erniedrigtseins und der Unterwürfigkeit dulden. Die Selbstsicht des Islam als einzig wahre und überlegene Religion findet ihre ‚organische’ Entsprechung in der Glorifizierung der Umma, der Gemeinschaft aller gläubigen Muslime, als beste aller menschlichen Gemeinschaften. So heißt es in Sure 3, Vers 110 des Koran: „Ihr seid die beste Gemeinde, die für die Menschen erstand. Ihr heißet, was Rechtens ist, und ihr verbietet das Unrechte und glaubet an Allah“. Auf der anderen Seite liefert der Koran ein reichhaltiges Aussagematerial für eine extreme Herabwürdigung und Entmenschlichung von Anders- und Nichtgläubigen. Ich zitiere nur drei Beispiele für die ca. 70 Passagen im Koran, die Hass, Gewalt und Feinseligkeit gegen Nicht-Muslime artikulieren und genüsslich deren Höllenqualen beschreiben:

„Sie wünschen, daß ihr ungläubig werdet, wie sie ungläubig sind, und daß ihr (ihnen) gleich seid. Nehmet aber keinen von ihnen zum Freund, ehe sie nicht auswanderten in Allahs Weg. Und so sie den Rücken kehren, so ergreifet sie und schlagt sie tot, wo immer ihr sie findet; und nehmet keinen von ihnen zum Freund oder Helfer“ (Sure 4, 89).

„Sind aber die heiligen Monate verflossen, so erschlaget die Götzendiener, wo ihr sie findet, und packet sie und belagert sie und lauert ihnen in jedem Hinterhalt auf“ (Sure 9, 5).

„Siehe, schlimmer als das Vieh sind vor Allah die Ungläubigen, die nicht glauben (wollen)“ (Sure 8, 55).

Ausgestattet mit einem solchermaßen religiös-narzißtisch konstituierten Selbstbild sieht sich der konservative Mehrheits-Islam dazu berechtigt und verpflichtet, alles ‚Unislamische’ zu bekämpfen und seinen Herrschaftsanspruch gegenüber den unterlegenen und minderwertigen ‚Ungläubigen’ durchzusetzen. Diese imperial ausgerichtete Bekämpfung des Kufr (Gesamtheit der nichtislamischen Kultur) konkretisiert sich in der Erzeugung und Propagierung eines Feindbildes, das heute primär in der Verteufelung der modernen bzw. säkularen Gesellschaft erscheint. Als „verdorben“, „unrein“, „verwerflich“ etc. gilt alles, was nicht den konservativ interpretierten „göttlichen Gesetzen“ entspricht bzw. sich dem absolutistischen Geltungsanspruch des Gesetzes-Islam entzieht.

Im Djihad-Gebot gelangen folgerichtig zwei zentrale Wesensmerkmale des Islam zum Ausdruck: Zum einen der militant-kriegerische Wille zur totalen Weltherrschaft:

„Und kämpfet wider sie, bis kein Bürgerkrieg mehr ist und bis alles an Allah glaubt“ (Sure 8, 40).

Das islamische Gottesgesetz soll nicht nur für ein auserwähltes Volk gelten, sondern über alle Menschen herrschen. Zum anderen wird deutlich die moralische Vorrangstellung der militanten Glaubenskämpfer als ‚Muslime erster Klasse’ hervorgehoben:

„Und nicht sind diejenigen Gläubigen, welche (daheim) ohne Bedrängnis sitzen, gleich denen, die in Allahs Weg streiten mit Gut und Blut. Allah hat die, welche mit Gut und Blut streiten, im Rang über die, welche (daheim) sitzen, erhöht. Allen hat Allah das Gute versprochen; aber den Eifernden hat er vor den (daheim) Sitzenden hohen Lohn verheißen“ (Sure 4, 95).

3) Der Islam tritt aber nicht nur nach außen mit einem imperialen Herrschaftsanspruch auf, sondern dient auch nach innen als normative Begründung und Rechtfertigung einer intramuslimischen Herrschaftsordnung. Unter Verweis auf den Koran, Sure 4, Vers 59 („O ihr, die ihr glaubt, gehorchet Allah und gehorchet dem Gesandten und denen, die Befehl unter euch haben“), werden die irdischen Herrschaftsbeziehungen innerhalb der islamischen Gemeinwesen sakralisiert, d. h. als heiliges Gebot Allahs sanktioniert. Den Rechtsgelehrten oblag es, die jeweilige Herrschaftspraxis im Nachhinein im Sinne der religiösen Quellen zu rationalisieren, also einen Einklang zwischen absolutem Text und Realität zu konstruieren. Ibn Taimiyya (1236-1328) bestimmte den Sultan als „Schatten Allahs auf Erden“ und betonte, dass die sechzigjährige Herrschaft eines ungerechten Imams besser sei als eine einzige Nacht ohne einen Sultan. In einem Hadith heißt es:„Hört auf euren Befehlshaber und gehorcht ihm, auch wenn es ein abessinischer Sklave sein sollte, der wie eine vertrocknete Weintraube aussieht!“ (Al-Buhari 1991, S. 473). Damit wird ein Widerstandsrecht der Muslime auch gegenüber einem von den religiösen Vorschriften abweichenden Herrscher kategorisch ausgeschlossen; vielmehr wird Widerstand mit strafwürdigem Unglauben gleichgesetzt und als Gotteslästerung verfolgt.

Die Verse 104, 110 und 114 der Sure 3 des Korans bilden die normative Grundlage für den Aufbau einer umfassenden islamischen Kontrollgesellschaft. Alle Gläubigen sind demnach an ihrem jeweiligen Platz in der Gesellschaft dazu angehalten, das Rechte zu gebieten und Falsches/Unrechtes/Sündhaftes in die Schranken zu weisen und zu ahnden. Der Einzelne soll sich nicht nur selbst an die Gesetze Gottes halten, sondern er ist auch dazu aufgefordert, andere zur Einhaltung des islamischen Pflichtenkanons anzuhalten bzw. sie entsprechend zu überwachen. Dabei wird die Verletzung der göttlichen Vorschriften in erster Linie nicht als individuelle Handlung eines Einzelnen gewertet, der wegen seines Seelenheils vor weiterem sündhaften Verhalten abgebracht werden soll, sondern als Beschädigung bzw. Beschmutzung der Umma in ihrer Eigenschaft als sakrale Gemeinschaft. So zielt die koranische Aufforderung, Rechtes zu gebieten und Unrechtes zu bekämpfen im Endeffekt immer auf die Wahrung bzw. Wiederherstellung der „Ehre“ der zur absoluten Herrschaft berufenen Gemeinschaft der Rechtgläubigen in Form der Anwendung der Schari’a. Ein besonders schwerwiegendes Verbrechen gegen den Islam stellt der Glaubensabfall dar.

4) Das Herzstück des herrschaftsideologischen Islam-Konzepts ist die Transformation von Koran und Sunna in das Konstrukt des islamischen Gottesgesetzes, die sog. Schari’a. Dabei handelt es sich um eine willkürliche Schöpfung orthodoxer Rechtsgelehrter, die den situationsspezifischen Aussagebestand des Koran sowie zeitgebundene Äußerungen und Verhaltensweisen des Propheten (Traditionen/Hadith) in ein absolutes und unwandelbares, jederzeit und überall geltendes System von Vorschriften und Strafregeln verwandelten. Wesentlicher Bestandteil dieses Konzeptes ist die Setzung der Rechtsgelehrten als höchste Autoritäten und Wächter der Schari’a, denen die Oberhoheit in Auslegungs- und Entscheidungsfragen zukommt. Demnach darf niemand die Deutung des Koran und der Schari’a durch die mittelalterlichen Gelehrten in Frage stellen. So heißt es in der kategorischen Forderung an Koranschüler:

„Lege nie einen Koranvers nach deiner eigenen Vorstellung aus, sondern prüfe nach, wie ihn die Gelehrten des „heiligen Textes“ und die weisen Männer, die vor dir lebten, verstanden haben. Wenn du den Vers anders verstehst und deine Auffassung dem ‚heiligen Gesetz’ widerspricht, verlass deine erbärmliche Meinung und schleudere sie gegen die Wand“ (Verein contra Fundamentalismus/http://mypage.bluewindow.ch/a-z/vcf/index2.html.)

In dieser Gestalt vollendet sich der Totalitätsanspruch des Islam, der ja darauf abzielt, den ganzen Menschen in allen Lebensbereichen zu erfassen. Denn mit der Schari’a tritt die islamische Religion als absolutistisches System von Alltagsregeln, Vorschriften und Sanktionen in Erscheinung, denen sich der Einzelne bei Strafe massiver körperlicher und psychischer Repression bis hin zur Todesstrafe fügen muss.

5) Der herrschaftsbegründende und -legitimierende Wesenszug des Islam tritt nicht zuletzt in einem ausgeprägt repressiven Patriarchalismus in Erscheinung. Die Grundlage hierfür bietet die folgende unmissverständliche Aussage des Korans (Sure 4, Vers 34):

„Die Männer sind den Frauen überlegen wegen dessen, was Allah den einen vor den anderen gegeben hat, und weil sie von ihrem Vermögen (für die Frauen) auslegen. Die rechtschaffenen Frauen sind gehorsam und sorgsam in der Abwesenheit (ihrer Gatten), wie Allah. Diejenigen aber, für deren Widerspenstigkeit ihr fürchtet – warnet sie, verbannt sie aus den Schlafgemächern und schlagt sie. Und so sie euch gehorchen, so suchet keinen Weg wider sie; siehe Allah ist hoch und groß.“

III. Der Islamismus als regressive Widerspruchsverarbeitung

In seiner Eigenschaft als ideologisch gestützte Bewegung stellt der Islamismus keinesfalls eine sinnentstellende Verfälschung des orthodoxen Gesetzes-Islam dar, sondern erweist sich als dessen ‚natürliches’ Entwicklungsprodukt. Genau betrachtet repräsentiert er die ideologisch-praktische Reaktion der aktiven Vorkämpfer und Verteidiger der islamischen Herrschaftskultur auf die vielfältigen Herausforderungen der westlich-kapitalistischen Moderne. Im Grunde handelt es sich um eine selbsterhaltungslogische Radikalisierung unter negativ veränderten Daseinsbedingungen. Der Islamismus verkörpert damit auch keine „wesenswidrige Instrumentalisierung“ des Islam, sondern tritt als konsequente Erneuerungsgestalt der islamischen Herrschaftskultur in Erscheinung, die durch den Herausforderungsrahmen, wie er von der westlichen Moderne objektiv gestellt wurde und wird, „hindurchgegangen“ ist[3]. Traditioneller Absolutismus schlägt um in operativ modernisierten religiösen Totalitarismus. Elemente und Methoden der technischen Moderne werden aufgegriffen und als Instrumente zur Verbreitung radikalisierter islamischer Herrschaftsideologie und militanter Praxis genutzt (Stichwörter: Google-Islamismus, Virtuelle Umma, das Internet als Schule des djihadistischen Terrorismus etc.).

Ebenso wie der deutsche Faschismus im sog. ‚Jungkonservatismus’ der Zwischenkriegszeit seine weltanschauliche Wegbahnung vorfand, beruht der Islamismus auf der umfassenden geistigen Vorarbeit des traditionalistischen Schari’a-Islam. Entsprechend lässt sich auch eine enge soziale, politische und ideologische Verflechtung zwischen den konservativ-traditionalistischen und den islamistischen Kräften nachweisen. (So stellten sich etwa im Jahr 2000 Ägyptens islamische Autoritäten zusammen mit der islamistischen Opposition gegen einen Gesetzentwurf, der es Frauen erlaubt hätte, auch ohne die schriftliche Einwilligung ihres Mannes ins Ausland zu reisen. Die Regierung zog das Vorhaben zurück. Eine ebenso erfolgreiche Koalition, die die parlamentarische und die außerparlamentarische islamistische Opposition sowie den Religionsminister zusammenbrachte, verhinderte in Marokko einstweilen wesentliche Änderungen des Familienrechts – insbesondere ein Verbot der Polygamie -, die Marokkos junger König Muhammad VI. offenbar gerne durchgesetzt hätte“ (Perthes 2002, S. 121).

Fragt man nach den konkreten Widerspruchserfahrungen, die dem schubweisen Aufstieg des Islamismus zugrunde liegen, dann lassen sich hier eine äußere und eine innere Krisenkonstellation anführen. Betrachten wir zunächst die äußere Krise:

1) Während im Selbstverständnis zumindest der streng gläubigen Muslime der Islam bzw. die im Koran fixierte Offenbarung den End- und Höhepunkt allen menschlichen Wissens darstellt und die Umma die beste aller menschlichen Gemeinschaften bildet, steht die weltweite politisch-militärische Vorherrschaft und ökonomisch-technologische Überlegenheit der westlich-nichtislamischen Zivilisation dazu in einem eklatanten Widerspruch. D. h. der nach universeller Herrschaft strebende Islam sieht sich, spätestens seit dem Einfall Napoleons in Ägypten (1798) und dem Zerfall des osmanischen Reiches, durch den ‚überlegenen’ Westen in seinen elementaren (identitätsbildenden) Herrschaftsambitionen blockiert. Den historisch-politischen Hintergrund für die Entstehung breit gefächerter Re-Islamisierungsbewegungen in den islamisch geprägten Ländern bildet demnach der neuzeitliche Zerfall des muslimischen Überlegenheitsgefühls, d. h. die identitätsbedrohende Erfahrung, dass die islamisch-arabische Kulturregion ihre ehemalige (mittelalterlich-imperiale) Dominanzposition im Weltmaßstab eingebüßt hat.

Nach der Errichtung des Staates Israel und der arabischen Niederlage im israelisch-arabischen Sechs-Tage-Krieg 1967 bildet heute die militärischen Präsenz der USA und weiterer westlicher Staaten in der islamischen Welt einen besonderen Entzündungsherd der muslimischen Herrschaftskultur.

2) Zweitens ist hier die innere Widerspruchskonstellation der islamisch geprägten Gesellschaften anzuführen, die hier nur kurz angerissen werden kann. Dabei ist vor allem die Verzahnung folgender Krisenprozesse hervorzuheben:

  1. a) die Krise des rentenökonomischen Verteilungssystems und b) ein kaum gebremstes Bevölkerungswachstum. Die dadurch verursachten sozialen Verwerfungen, Frustrationen und Abstiegsängste werden zusätzlich ergänzt und verstärkt durch die negativen Auswirkungen der exogenen, d. h. der ‚unorganisch’ und spontan-chaotisch von außen hereinbrechenden Modernisierung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse. Hervorstechende Erscheinungsformen dieses Umbruchprozesses sind z. B. die schnell anwachsende Landflucht, die dadurch bedingte rapide Urbanisierung, die Zunahme der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit von Frauen, die verlängerte Ausbildungszeit des zahlenmäßig stark gestiegenen Nachwuchses, das zunehmende Einsickern westlich-kapitalistischer Konsumangebote und Dienstleistungen mit der dazugehörigen Werbung und Warenästhetik sowie die Ausdehnung der Bürokratie.

Ein weiteres, die sozialpsychische, moralische und politische Situation in den islamischen Ländern kennzeichnendes Problem ergibt sich aus folgender Konstellation: Aufgrund der Bevölkerungsexplosion und der gleichzeitig wirksam werdenden sozialökonomischen Krise kam es zu einer raschen Zunahme karriereblockierter, arbeitssuchender und unverheirateter junger Menschen ohne soziale Perspektive. Infolgedessen stieg auch das durchschnittliche Heiratsalter, so dass sich der Zeitpunkt der Familien- und eigenständigen Haushaltsgründung deutlich verzögert hat. Andererseits gilt nach wie vor unverändert die konservativ-traditionalistische Sexualmoral, die voreheliche sexuelle Beziehungen strikt verbietet und verteufelt. Entsprechend hoch ist die sexuelle Frustration, die sich zur sozialen und arbeitsmarktlichen Enttäuschung noch hinzugesellt. Das sich daraus ergebende Aggressionspotential wird von den Islamisten wiederum als sprudelnde Quelle genutzt, indem die destruktiven Energien auf Ersatzobjekte bzw. Sündenböcke gelenkt werden: Ungläubige, unverschleierte Frauen, westliche Einflüsse, die Juden etc.

Wie andere religiös-fundamentalistische und totalitäre Bewegungsvarianten verkörpert auch der Islamismus den Typus einer aktivistischen, reaktionär-regressiven Widerspruchsverarbeitung angesichts einer zugleich objektiv-realen (ökonomischen, sozialen, politischen) und geistig-kulturellen Krisensituation (vgl. Krauss 2003). Charakteristisch ist hierbei, dass zwar reale gesellschaftliche Krisensymptome (soziale Verwerfungen, Werteverfall, gesellschaftliche Anomie, Entsittlichungsphänomene u. a.) mobilisierungsideologisch aufgegriffen und angeprangert werden, aber zugleich hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden herrschaftsstrukturellen Verursachungs- und Erzeugungsmechanismen verkannt und verzerrt, d. h. im Rahmen einer radikalisierten irrational-religiösen Denkform auf regressive Weise umgedeutet werden. Daraus resultiert dann eine ‚reaktionäre’ Orientierung und Handlungslenkung auf die Wiederherstellung traditioneller bzw. die Vertiefung bestehender Herrschaftsverhältnisse. Damit erweist sich der Islamismus im Grunde als ‚Übersetzung’ des orthodoxen Islam in eine aktualisierte Herrschaftsideologie und verkörpert damit die dialektisch-konfrontative Anpassung des Islam an die mit dem globalen Aufstieg der westlichen Moderne gesetzte Herausforderung.

Das übergreifende ‚Kernmerkmal’ totalitärer Bewegungen besteht in der eigentümlichen Synthese wirkungsmächtiger Momente prämoderner (vor- und nichtkapitalistischer) Herrschaftskultur (Religion, autoritär-hierarchische Sozialbeziehungen, persönliche Knechtschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse, Patriarchalismus, Kriegerehre etc.) mit bestimmten Aspekten ökonomischer, technologischer und bürokratischer Modernität (Waffen-, Transport-, Kommunikationstechnik, Luxuskonsum etc.) bei gleichzeitiger hasserfüllter Ablehnung und Bekämpfung der kulturellen Moderne (Menschenrechte, die humanistische Idee des freien und souveränen Subjekts, Demokratie, Säkularismus, Laizismus etc.). Hinzu kommt im Falle des Islamismus noch die spezifische Rezeption westlicher reaktionärer Ideologien wie Antisemitismus, Nationalismus und Faschismus. So konnte der Islamismus binnen kurzer Zeit zur weltweit größten und einflussstärksten antijüdischen Massenbewegung aufsteigen (vgl. Küntzel 2002.)

  1. Grundelemente der islamistischen Ideologie

Im Grunde ist der Islam die ahistorische Fixierung und gleichzeitige religiöse Überhöhung einer frühmittelalterlichen Sozial- und Moralordnung innerhalb des arabischen Kulturraums. So spiegeln sich in den 114 Suren des Korans sowie in der Sunna des Propheten die Lebensepisoden Mohammeds mitsamt ihren konkret-gesellschaftlichen Bedingtheiten, Konfliktkonstellationen, äußeren und inneren Anfechtungen etc. einschließlich der jeweiligen kontextspezifischen Handlungsorientierungen. Im subjektiven Horizont der Gläubigen wird dieser konkret-historische/situative Charakter des Korans freilich vollständig eliminiert. Denn: Der Koran gilt den gläubigen Muslimen als direkter Offenbarungstext, „d. h. jedes Wort und jedes Komma sind unmittelbar von Allah selbst geoffenbart und deshalb in jeder Einzelheit geschützt“ (Kienzler 1996, S. 24).

Die Verabsolutierung und Konservierung der koranischen Normative zu einem zeitlos gültigen Dogmensystem, das auch für die heutige Gegenwart den Status eines unhinterfragbaren Regelwerks beansprucht, ist als eine eigenständige Hauptquelle der kulturraumspezifischen Rückständigkeit sowie der dortigen Beibehaltung prämoderner (despotischer) Herrschaftsstrukturen anzusehen. Das bedeutet: Der orthodoxe Islam ist eine Grundursache des Problems.

In unmittelbarem Gegensatz zu jeder selbstkritischen Erkenntnis der eigenen Selbstblockade propagieren die Islamisten den Islam als Lösung sowie den Koran als Verfassung und verstellen damit jedweden Ansatz zu einer fortschrittlich-emanzipatorischen Problembewältigung in Richtung auf Säkularisierung, Demokratisierung, Gleichberechtigung und rational-humanistische Bildung. Stattdessen haben sie ein System ideologischer Abwehrmechanismen geschaffen, das exakt den selbstgerechten Herrschaftsanspruch der streng gläubigen Muslime bedient und folgende Deutungsmittel einsetzt:

  1. A) das Operieren mit dem irrealen Mythos eines ‚Goldenen Zeitalters’,
  2. B) die selbstentlastende Inszenierung eines ausgeprägten Verschwörungsdenkens in Verbindung mit einem antiwestlich-antijüdischen Feindbild sowie
  3. C) die Setzung eines angeblichen Glaubensabfalls als innere Krisenursache.

Im Einzelnen sind folgende Grundinhalte der islamistisch-fundamentalistischen Ideologie festzustellen:

1) Im Zentrum steht das Streben nach einer absoluten, totalitären und universalen Herrschaft des Islam unter Führung der Islamisten als gottesherrschaftlicher Avantgarde. So lautet z. B. die Parole des Gründers der Moslembrüder, Hassan al-Banna: „Gott ist unser Ziel, der Koran ist unsere Verfassung; der Prophet ist unser Führer; Kampf ist unser Weg, und Tod um Gottes willen ist unser höchstes Streben.“ (zit. n. Ayubi 2002, S. 190). Sehr deutlich kommt das Wesen des islamistischen Herrschaftsanspruchs in der folgenden Aussage des iranischen Revolutionsführers Ayatollah Khomeini zum Ausdruck:

„Die islamischen Gesetze, weil sie göttlichen Ursprung haben, sind die einzige gültige Wahrheit, und sie gelten auf ewig und immer für die gesamte Menschheit. Der Prophet Muhammad hat alle erdenklichen Probleme der Menschheit im Koran und den Traditionen und Überlieferungen verkündet und mit seiner Botschaft alle früheren Religionen, Wahrheiten und Gesetze aufgehoben. Die gesamte Menschheit muss dem Propheten Muhammad gehorchen, und seine Gesetze sind rigoros anzuwenden“ (zit. n. Choubine 2003, S. 65).

Dieser totalitäre Herrschaftsanspruch impliziert die Forderung nach einer islamischen Staatsordnung, in der die Schari’a das Alltagsleben regelt, die nur von streng gläubigen Muslimen geführt werden darf und in der alle Andersdenkenden und Unangepassten systematisch unterdrückt und terrorisiert werden.

2) Das Grundprinzip der staatsterroristischen Herrschaftsordnung des Islamismus ist die ‚Gottessouveränität’, die ‚Hakimiyyat Allah’. Nach diesem Prinzip kommt Gott/Allah die alleinige Souveränität zu, während die Menschen auf den Status von gehorsamspflichtigen Gottesknechten zurückverwiesen werden, denen die Aufgabe zufällt, die heiligen Gesetze zu erfüllen. Entsprechend heißt es bei dem ägyptischen Fundamentalisten Sayid Qutb:

„Göttlichkeit allein Gott zuzuerkennen … bedeutet die vollständige Auflehnung gegen menschliche Herrschaft in all ihren Formen und Arten, Systemen und Einrichtungen … Es bedeutet die Zerstörung des Königreichs des Menschen, um das Königreich Gottes auf Erden zu errichten … die Macht aus der Hand des menschlichen Usurpators zu reißen und sie Gott allein zurückzugeben; die Oberherrschaft allein des göttlichen Gesetzes und die Aufhebung der menschlichen Gesetze“ (zit. n. Ayubi 2002, S. 201). Und: „Daher kann es keine Ordnung geben, die Gott akzeptiert und die der Islam bestätigt, solange diese Ordnung nicht von der islamischen Glaubenskonzeption stammt und sich in Regelungen und Gesetzgebungen zeigt, die allein der islamischen Schari’a[4]entstammen“ (zit. n. Damir-Geilsdorf 2003, S. 78)

Daraus folgt nun eine umfassende Verwerfung und Verteufelung des ‚modernen’ Prinzips der Demokratie. Demokratie/Volkssouveränität ist in dieser Sichtweise Gotteslästerung bzw. sündhafte Außerkraftsetzung der Gottessouveränität.

3) Der Unterschied zwischen konservativem Gesetzes-Islam und Islamismus besteht nun im Grunde darin, dass der Islamismus zum einen fordert, Herrscher, die den islamischen Gesetzen zuwiderhandeln, also z. B. mit den „Ungläubigen“ paktieren und kollaborieren, zu stürzen und zum anderen darin, dem islamischen Bekenntnis nicht einfach nur in der eigenen Lebensführung Folge zu leisten, sondern sich aktiv-kämpferisch an der gesellschaftlichen Durchsetzung der islamischen Ordnung zu beteiligen. In diesem Sinne wird die aktivistische Durchsetzung der Gottesherrschaft einschließlich der blutigen Bekämpfung der ‚Ungläubigen’ in Form des Djihad zur religiösen Pflicht gemacht und die Beschränkung auf fromme Werke grundsätzlich verneint. „‘Konfrontation und Blut’ ist der Weg für die Errichtung des islamischen Staates: ohne Aufschub und ohne Kompromiss“ (Ayubi 2002, S. 207). Dabei wird die Unterwerfung unter Gottes Schari’a als Geburt ‚des wahren, neuen Menschen’ inszeniert, die gleichzeitig die Ausübung von Kontroll- und Sanktionsmacht legitimieren soll und zur ‚Rechtleitung’ von anderen (weniger, anders und nicht gläubigen) Menschen ermächtigt, folglich ein islamisches Herrenmenschentum begründet.

4) Im Brennpunkt der islamistisch-fundamentalistischen Ideologie steht die kompromisslose und gewaltbereite Bekämpfung der ‚kulturellen Moderne’ mit all ihren grundlegenden Prinzipien: Wissenschaftlich-humanistisches Weltbild, Menschenrechte, Vernunftprinzip, Idee des freien Subjekts, Demokratie, Pluralismus, Trennung von Religion, Staat/Politik und Privatsphäre etc. Das bedeutet: Die Betonung der autonomen Subjektqualität der vergesellschafteten Individuen als vernunftbegabte Selbstgestalter ihres eigenen Lebensprozesses und die sich darin gründende Schöpferkraft, Selbstverantwortung und Würde des Menschen (als Gattung und Individuum) wird als dekadenter Unglaube und Ursache allen Übels denunziert. Stattdessen beharrt der Islamismus auf der theozentrischen Fiktion Gottes als allmächtigem Schöpfer, Gestalter und Richter des Weltgeschehens. Dabei interpretieren die Islamisten die moderne Zivilisation und Wissenskultur als Wiederauferstehung der jahiliya, d. h. des heidnischen Unwissens und der Ignoranz aus vorislamischer Zeit.

„Wir befinden uns heute“, so heißt es bei Sayyid Qutb, „in einer jahiliya, ähnlich derjenigen zur Entstehungszeit des Islam oder sogar noch schlimmer. Alles um uns herum ist eine jahiliya: die Auffassungen und Überzeugen der Menschen, ihre Sitten und Gewohnheiten, die Quellen ihrer Kultur, Kunst und Literatur und ihr Recht und ihre Gesetzgebung. Vieles sogar, das wir für islamische Kultur, islamische Quellen oder islamische Philosophie und islamisches Gedankengut halten, ist in Wirklichkeit das Machwerk dieser jahiliya“ (zit. n. Ayubi 2002, S. 200).

Da die moderne Säkularisierung des Denkens und der Kultur für alle Übel der Welt und für die Krise des Islam im Besonderen verantwortlich gemacht wird, propagieren die Islamisten die „Entwestlichung des Wissens“ bzw. den absoluten geistig-moralischen Bruch mit der ‚kulturellen Moderne’ als ‚einzigen Ausweg’.

„Das Wissen“, so der ägyptische Fundamentalist Shukri Mustafa, „das Gott für uns bestimmte, damit wir unsere Grenzen nicht überschreiten – um Seine gehorsamen Diener zu bleiben -, und das Wissen, das der Prophet jedem Muslim befohlen hat – um Gott zu verherrlichen – , ist einzig das Wissen um das Jenseits. Und nichts sonst.“

Erwähnenswert ist in diesem Kontext, dass das islamistische Feindbild vom Westen eindeutig auch rassistische Züge trägt. So behauptet etwa Sayyid Qutb, dass der „Geist der Kreuzzüge“ den Okzidentalen „im Blut“ liege, „ein vererbter Instinkt“ und „natürliche Eigenart“ der Menschen dieser Region sei und sich „in ihr Unterbewußtsein eingeschlichen“ habe.

5) Dem totalitären Herrschaftsanspruch und der militanten Ablehnung der ‚kulturellen Moderne’ entspricht ein strikt bipolares Denken, das die gesellschaftliche Krisenrealität im Sinne eines extremen moralischen Dualismus deutet. So werden die sozialen Antagonismen bezüglich Macht, Einkommen, Vorrechten und Prestige und die daraus hervorgehenden gesellschaftlichen Krisenerscheinungen als Ausdruck von sozialen Strukturproblemen geleugnet und stattdessen als Kampf zwischen ‚Gut’ und ‚Böse’, zwischen Gott und Satan, Satan und Islam etc. interpretiert. „Es gibt auch kein Mittelding zwischen Gut und Böse, sondern lediglich diese beiden Pole. Wer nicht für den (fundamentalistischen) Islam Partei ergreift, wird als Gegner angesehen, als Verräter gebrandmarkt“ (Riesebrodt 1990, S. 170). Dabei wird das ‚Böse’ und Satanische grundsätzlich als das ‚Fremde’, d. h. das Nichtislamische bzw. Ungläubige wahrgenommen und hypostasiert. Mit anderen Worten: Die Krisen- bzw. Verfallsursache wird ‚xenophobisch’ nach außen verlagert und fremden Mächten, Einflüssen, Machenschaften angelastet. In dieser Form erhält das bipolare Denken die Form einer ausgeprägten Verschwörungsideologie, die sich bis zum Verschwörungswahn steigern kann und insbesondere antijüdische Züge trägt. Nach Ansicht des ägyptischen Fundamentalisten Sheik Sha‘rawi, der lange Zeit in Saudi-Arabien gelebt hat, ist die vermeintliche ‚jüdische Troika’ Darwin-Marx-Freud für die Misere der arabischen Gesellschaften verantwortlich (vgl. Lüders 1992, S. 136). Wie im faschistischen Diskurs erfüllt der Jude die Funktion des multidimensionalen Verderbers. So heißt es bei Sayyid Qutb:

„Hinter der Doktrin des atheistischen Materialismus steckte ein Jude; hinter der Doktrin der animalistischen Sexualität steckte ein Jude; und hinter der Zerstörung der Familie und der Erschütterung der heiligen gesellschaftlichen Beziehungen steckt ebenfalls ein Jude … Die Juden befreien die sinnlichen Begierden von ihren Beschränkungen und sie zerstören die moralische Grundlage, auf der der reine Glauben basiert. Sie tun dies, damit der Glaube in eben jenen Dreck gezogen wird, den sie so reichlich auf dieser Erde verbreiten“ (zit. n. Küntzel 2002, S 84).

6) Ein weiteres Wesensmerkmal des Islamismus ist in seiner repressiven Geschlechtermoral und antihumanistischen Lustfeindlichkeit zu sehen. Während die westliche Moderne selektiv-grobschlächtig auf Pornographie, halbnackte Touristen, sexualisierte Werbung und erotische Videoclips reduziert wird, feiern die Islamisten verschleierte und weggesperrte Frauenkörper, religiös sanktionierte Polygamie, vorehelichen Sexualnotstand und den Verzicht auf Empfängnisverhütung als Ausdruck moralischer Überlegenheit. Das wahre Gesicht der islamistischen Sexualmoral zeigte sich freilich z. B. in Ägypten im Phänomen der „immer wieder im Nil treibenden Mädchen- und Frauenleichen – meist unverheiratete Schwangere aus der Unterschicht, die ermordet wurden oder sich selbst umgebracht haben – eine mehrerer Formen der sogenannten ‚Gewalt der Ehre’“ (Harwazinski 1998, S. 445f.). Ein praktisches Beispiel für die islamistische Einrichtung eines barbarischen Gotteszuchthauses hat u. a. das Taliban-Regime in Afghanistan geboten.

Im Zentrum der islamistischen Bewegung steht demnach nicht etwa die Bekämpfung des westlichen Kapitals, sondern der militante Hass auf die kulturelle Moderne bzw. das, was noch von ihr übrig geblieben ist: Trennung von Staat und Religion, Menschenrechte, demokratische Freiheiten, Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Gläubigen und Ungläubigen, das Recht auf Kritik des Religiösen in Wort, Bild und Ton etc. Was die Islamisten und überhaupt alle streng Religiösen in Rage versetzt, ist die realhistorische Erfahrung einer Kultur, die aus einer antifeudal-religionskritischen Bewegung hervorgegangen ist und die ihre praktisch-kritische siegreiche Energie letztendlich aus der geistigen Aufsprengung des theozentrischen Weltbildes bzw. der Entgöttlichung des Mensch-Welt-Bezuges bezogen hat. Stellvertretend für die verhasste Kultur der Ungläubigen rief der Mörder Theo van Goghs nach der seiner Tat einem Passanten zu „Da seht ihr, was euch erwartet“. Ihre staatsislamistische Fundierung und Einbettung erhalten diese Taten etwa durch die folgende Fatwa Khomeinis:

„Mitleid mit den Feinden des Islams ist Naivität. Die Entschlossenheit des Islams gegenüber den Feinden Gottes gehört zu den unverrückbaren Prinzipien der islamischen Ordnung. Ich hoffe, dass dies – begleitet vom revolutionären Zorn und Hass auf die Feinde des Islams – den Gefallen Gottes, des Erhabenen, findet“ (zit. n. Schirra 2006, S. 168).

Fazit

Aus der Perspektive einer herrschaftskritisch-emanzipatorischen Philosophie und Gesellschaftswissenschaft ist festzustellen: Bereits schon in Gestalt des orthodox-konservativen Gesetzesislam tritt uns eine wirkungsmächtige fremdkulturell entstandene (außereuropäische/nichtwestliche) Form eines expansiven Irrationalismus entgegen, die legitimationsideologisch auf die Verteidigung bzw. Wiederherstellung vormoderner Herrschaftsverhältnisse abzielt. Wir haben es hier unter veränderten historischen Rahmenbedingungen mit einer externen Neuauflage der ‚Zerstörung der Vernunft’ zu tun.

Es gibt durchaus eine auf ein totalitäres Resultat hinauslaufende Konvergenz zwischen der irrationalistisch-lebensphilosophischen und der irrationalistisch-islamischen Zerstörung der Vernunft: Militante Bekämpfung der Vernunft im Namen des Mythos hier, Djihad (umfassende multioperative Anstrengung) gegen die säkulare Lebensordnung dort.

Faschismus und Islamismus geht es im Endeffekt um die Liquidierung der kulturellen Moderne (als antifeudal-revolutionäres Kulturerbe) und um die dazu passende Heranzüchtung einer brutal-militanten Subjektivität (Frontkämpfer, Djihadist): „der Faschismus will den Typus eines durch nichts gehemmten, vor nichts zurückschreckenden brutalen Landsknechts hochzüchten“ (Lukács 1974, S. 202). Der Islamismus zielt ab auf den hingebungsvollen Gottesknecht, der über Berge von Leichen ins Paradies einzieht. In beiden Fällen geht es um den „heldische(n) Mensch der Ehre, der sich jedem Befehl stellt“ (ebd. S. 207). Der Befehl geht vom „Führer“ bzw. einem charismatischen Gottmenschen (Propheten) aus. Auch der nationalsozialistische Führer steht im Zeichen des Religiösen: „Was der Führer, was die nationalsozialistische Bewegung will“, so Lukács, „ ist eben eine religiöse Offenbarung. Krieck verficht mit großer Energie, dass eine solche auch heute möglich sei. ‚Gott spricht aber unmittelbar in uns im völkischen Aufbruch’“ (ebd. S. 208).

Der Reinrassigkeit als totalitärem Druckmittel im faschistischen Terrorstaat entspricht die Rechtgläubigkeit als totalitärem Druckmittel im gottesherrschaftlichen Terrorstaat. In beiden Fällen maßt sich der totalitäre Terrorstaat das Recht an, in sämtliche Lebensäußerungen des Individuums nach Belieben einzugreifen. Die persönlichen Rechtsgarantien, die vormals von der bürgerlich-antifeudalen Bewegung erkämpft worden waren, vernichtete der faschistische Terrorstaat (Rosenberg: Recht ist das, was arische Männer für Recht befinden), während der islamistische Terrorstaat direkt an der grundlegende Gottesknechtschaftslehre des orthodoxen Gesetzesislam anknüpfen kann. In seiner Selbstsicht betrachtet sich der faschistische Terrorstaat als „auf deutscher Sittlichkeit beruhender Weltanschauungsstaat“ (Lukács 1974a, S. 184), während sich der islamistische Terrorstaat als auf gottesherrschaftlicher Sittlichkeit beruhender religiöser Ordnungsstaat inszeniert. Der faschistische Führer ist der Vollstrecker des auf Rassenreinheit bedachten völkischen Gesamtwillens, der islamische Imam ist der Überwacher und Vollstrecker des göttlichen Willens gegenüber seinen knechtschaftlichen menschlichen Geschöpfen. Wenn Lukács schreibt, dass die ‚germanische Demokratie’ den widerwärtigen Typus eines Menschenschlages erzieht, der grenzenlos servil nach oben, ebenso grenzenlos grausam tyrannisch nach unten ist (ebd. S. 186), so gilt das Eins zu Eins auch für die islamistische Diktatur. Wie in allen totalitären Diktaturen werden die Menschen in beiden Fällen vor die Wahl gestellt, entweder korrupte Henker oder Objekte der Tortur zu sein. Es sollte deshalb nicht schwer fallen, auch im Falle des neuen islamistischen Totalitarismus gemäß der bekannten Maxime zu handeln: „Wehret den Anfängen“.

 

Zitierte Literatur:

Ayubi, Nazih: Politischer Islam. Religion und Politik in der arabischen Welt. Freiburg 2002.

Al-Buhari, Sahih: Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad. Ausgewählt, aus dem Arabischen übersetzt und herausgegeben von Dieter Ferchl. Stuttgart 1991.

Choubine, Bahram: Was ist Islamismus? In: Clara und Paul Reinsdorf (Hrsg.): Salam oder Dschihad? Islam und Islamismus aus friedenspoltischer Perspektive. Aschaffenburg 2003, S. 64-72.

Damir-Geilsdorf, Sabine: Herrschaft und Gesellschaft. Der islamistische Wegbereiter Sayyid Qutb und seine Rezeption, Würzburg 2003.

Harwazinski, Assia Maria: Fanatismus, Fundamentalismus, Frauen: Zur Kritik kulturalistischer Interpretationsmuster in der gegenwärtigen Islamdebatte. In: Bielefeldt, Heiner, Heitmeyer, Wilhelm 1998, S. 438-449.

Kienzler, Klaus: Der religiöse Fundamentalismus. Christentum, Judentum, Islam. München 1996.

Der Koran (herausgegeben von Kurt Rudolph und Ernst Werner), Leipzig 1984. 6. Auflage.

Krauss, Hartmut: Faschismus und Fundamentalismus. Varianten totalitärer Bewegung im Spannungsfeld zwischen ‚prämoderner Herrschaftskultur und kapitalistischer ‚Moderne‘. Osnabrück 2003.

Krauss, Hartmut: Islam, Islamismus, muslimische Gegengesellschaft. Eine kritische Bestandsaufnahme. Osnabrück 2008.

Krauss, Hartmut: Aufruhr im Morgenland. Vom autokratischen Regime zum islamistischen Gottesstaat, zur modernen Demokratie oder zum gesellschaftlichen Zerfall? Wohin driften die aktuellen Revolten in den arabisch-islamischen Ländern Nordafrikas? In: HINTERGRUND. Zeitschrift für kritische Gesellschaftstheorie und Politik. Osnabrück 24 (2011) 1. S. 3 – 32.

Küntzel, Mattthias: Djihad und Judenhaß. Über den neuen antijüdischen Krieg. Freiburg 2002.

Lüders, Michael (Hg.): Der Islam im Aufbruch? Perspektiven der arabischen Welt. München 1992.

Lukács, Georg: Die Zerstörung der Vernunft. Band II. Irrationalismus und Imperialismus. Darmstadt und Neuwied 1974.

Lukács, Georg: Die Zerstörung der Vernunft. Band III. Irrationalismus und Soziologie. Darmstadt und Neuwied 1974a.

Perthes, Volker: Bürgerkrieg oder Integration? Islamismus und Staat im arabischen Raum. In: Peter Pawelka/Hans-Georg Wehling (Hrsg.): Der Vordere Orient an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 143-155.

Perthes, Volker: Geheime Gärten. Die neue arabische Welt. Berlin 2002.

Riesebrodt, Martin: Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung. Amerikanische Protestanten (1910-28) und iranische Schiiten (1961-79) im Vergleich. Tübingen 1990.

Schirra, Bruno: Iran, Sprengstoff für Europa. Berlin 2006.

 

Anmerkungen:

[1] Nach Einschätzung westlicher Geheimdienste hat der lange Arm von Al-Qaida schon seit geraumer Zeit die Piraten vor der ostafrikanischen Küste und im indischen Ozean im Griff. Vgl. Neue Osnabrücker Zeitung vom 15.8.2011, S. 4.

[2] Inwieweit der islamistische Masseneinfluss im Zuge der arabischen Revolte nachhaltig zurückgedrängt werden kann, ist noch nicht absehbar. Vgl. Krauss 2011.

[3] Hierzu ausführlich Krauss 2008.

[4] Schreibweise von mir verändert, H. K.

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