Jürgen Todenhöfer: Feindbild Islam. Zehn Thesen gegen den Hass
64 Seiten. C. Bertelsmann Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH. München 2011. 1. Auflage. 4,99 €. ISBN 978-3-570-10135-3.
Mit Jürgen Todenhöfers „Feindbild Islam – zehn Thesen gegen den Hass“ geht die seit Jahren geführte Debatte um das Verhältnis der westlichen zur islamischen Welt in eine neue Runde. Das 64seitige Buch hat viel Beifall erhalten, so beispielsweise auch in Form einer überraschend unkritischen Rezension auf der Website des Humanistischen Pressedienstes. Dabei hält vieles, was Todenhöfer schreibt, einer genaueren Überprüfung nicht stand. Es verwundert, dass vielen Rezensenten die zahlreichen Sachfehler der kurzen Schrift offensichtlich entgangen sind. Ich spreche hierbei nicht von Dingen, über die man durchaus unterschiedliche Ansichten haben darf, sondern ich rede von Dingen, die faktisch und überprüfbar einfach Falschaussagen darstellen. Der antiwestlichen Einstellung des Autors mag man kritisch gegenüberstehen oder eben auch nicht, die sich ständig wiederholenden Fehlinformationen hingegen sind einfach nur ärgerlich und diskreditieren die Schrift als ganzes.
Bei seinem Versuch, negative Klischees zu widerlegen, schafft Jürgen Todenhöfer positive Klischees. In paternalistisch-wohlmeinendem Tonfall werden Muslime immer wieder pauschal mit den Attributen „gastfreundlich“, „herzlich“ und „liebenswert“ belegt. Die Wirklichkeit dürfte dann wohl doch etwas differenzierter sein. Todenhöfer möchte offenbar Zerrbildern nicht etwa die Wahrheit, sondern andere Zerrbilder entgegenhalten.
Todenhöfers erste These lautet, der Westen sei viel gewalttätiger als die muslimische Welt. Die These wird durch eine Aufzählung diverser Gewalttaten des Westens, begangen zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Akteuren, untermauert. Zwar belegt Todenhöfer seine Aussagen nicht sehr oft mit Quellenangaben, dennoch gibt es keinen Grund, die von ihm an dieser Stelle genannten Verbrechen anzuzweifeln (wenn man von einem sehr unkritischen Umgang mit den umstrittenen Ergebnissen der Lancet-Studie über die Anzahl der im Irak getöteten Menschen einmal absieht). Es ist daher auch nicht die Position Todenhöfers, dass der Westen in seiner Geschichte oft gewalttätig aufgetreten sei, die den informierten Leser befremdet, es ist vielmehr seine Verharmlosung und Relativierung der nichtwestlichen Gewalt. „Nicht ein einziges Mal in den letzten zweihundert Jahren hat ein muslimisches Land ein westliches Land angegriffen“, schreibt Todenhöfer. Nun hängt der Wahrheitsgehalt dieser Aussage davon ab, was man als „westliches Land“ alles gelten lässt. Zählt man auch Israel als westliches Land (was man normalerweise tut), so ist Todenhöfers Behauptung angesichts der zahlreichen Angriffe der arabischen Nachbarländer eindeutig falsch. Und es sollte auch daran erinnert werden, dass dem Eintritt des Osmanischen Reiches in den Ersten Weltkrieg ein türkischer Angriff auf russische Schwarzmeerhäfen (ohne Kriegserklärung) vorausging. Letztlich aber sind Todenhöfers „zweihundert Jahre“ natürlich auch eine Zeitspanne, in denen der Westen militärisch und machtpolitisch stark, die islamische Welt hingegen ohnmächtig war. Es wäre also an dieser Stelle daher eher auf das Unvermögen und nicht auf den Unwillen zur Aggression zu verweisen. Blickt man hingegen auf eine Epoche, in der Orient und Okzident einander auf Augenhöhe begegnen konnten (oder die islamische Welt gar militärische Überlegenheit genoss), dann erscheinen die Unterschiede im Hinblick auf aggressiv-expansives Verhalten sehr gering.
Es ist diese selektive Wahrnehmung Todenhöfers, die sich durch seine ganze Schrift zieht. Was in sein Weltbild passt, führt er als Beleg an, was nicht passt, lässt er weg. Er thematisiert die Kolonialpolitik des Westens, aber keineswegs die ebenfalls brutale Kolonialisierung Ostafrikas durch die Araber, die nur aufgrund der Unzulänglichkeit der Mittel keinen noch größeren Umfang angenommen hat. Auch gewinnt man den Eindruck, dass ihm das Ausmaß des arabischen Sklavenhandels unbekannt zu sein scheint. Dieser bewegte sich in ähnlichen Dimensionen wie der der westlichen Welt, wenn auch über einen deutlich längeren Zeitraum hinweg. Kolonialpolitik ist sicherlich verdammenswert, aber das Verdammen möge bitte doch mit korrekten und seriösen Argumenten geschehen: Die Alphabetisierungsquote Algeriens, die laut Todenhöfer vor der Kolonialisierung 40% betragen haben soll und danach nur noch 20%, ist ein Einzelbeispiel, dem natürlich bei anderen kolonialisierten Ländern eine gegenteilige Entwicklung gegenübersteht, die Todenhöfer – wieder einmal – verschweigt. Die Kolonialzeit war oft blutig, aber ein von Todenhöfer suggeriertes Goldenes Zeitalter der arabischen Welt hatte es zuvor eben auch nicht gegeben. Die einheimischen Unterdrücker und Ausbeuter waren im Zuge der Kolonialisierung lediglich durch fremde Unterdrücker und Ausbeuter ausgetauscht worden, die manchmal brutaler, manchmal aber auch ein wenig menschlicher auftraten als ihre Vorgänger.
Kein Satz jedoch bringt die realitätsfernen Vorstellungen des Autors deutlicher zur Geltung als dieser hier: „Anders als bei uns gibt es in der muslimischen Welt das Phänomen ‚Fremdenfeindlichkeit’ überhaupt nicht.“ Ist Jürgen Todenhöfer, diesem „Kenner der arabischen Welt“, etwa wirklich der offene Rassismus, der beispielsweise indischen Gastarbeitern in den Vereinigten Arabischen Emiraten entgegenschlägt und von dem immer wieder berichtet wird, völlig unbekannt? Weiß er nichts von dem Progrom an der jüdischen Bevölkerung Bagdads im Jahr 1941? Hat er noch nie etwas von den türkischen Massakern an den Armeniern in den 1890ern und während des Ersten Weltkrieges gehört? Hat er keine Kenntnis davon, dass nicht wenige muslimische Familien erhebliche Vorbehalte gegen einen „fremden“ Schwiegersohn haben? Dass in den entlegenen Gebieten der islamischen Welt bereits der Angehörige eines anderen Stammes als „Fremder“ gilt (obwohl sprachlich und kulturell eng verwandt), zu dem man deutliche Distanz wahrt? Bekanntlich gibt es rechtsextreme türkische Organisationen und Parteien. Wogegen wenden die sich wohl, wenn nicht gegen Fremde? Die gesamte muslimische Welt ist voller ethnischer und religiöser Konflikte. Die Rechte von Minderheiten sind stark eingeschränkt. Neun der zehn Länder, in denen Christen der größten Verfolgung ausgesetzt sind, sind islamische Länder. Auch was die Verbreitung des Antisemitismus angeht, sind die islamischen Länder Spitzenreiter. Ich wiederhole: An keiner anderen Stelle wird die selektive Wahrnehmung Todenhöfers deutlicher als an dieser.
Phasen der Toleranz im Islam, die es natürlich gegeben hat, werden den blutigsten Kapiteln der christlichen Geschichte gegenübergestellt. Das würde natürlich andersherum genauso funktionieren. Das Christentum sieht sicherlich schlecht aus, wenn man die Kreuzzüge und spanischen Judenvertreibungen mit den Taten Saladins und dem maurischen Andalusien vergleicht, wie Todenhöfer das tut. Die Eroberungskriege des Islam hingegen, die andersgläubige Gebiete unter seine Herrschaft brachten (noch zum Zeitpunkt des ersten Kreuzzuges war die Bevölkerung Ägyptens und Syriens mehrheitlich christlich) und die zahlreich historisch belegten Benachteiligungen von Christen und Juden hätten, als Beispiele herangezogen, eine ganz andere Art von Vergleich erlaubt. Wieder einmal schaltet Todenhöfer seine Fähigkeit zum kritisch-analytischen Denken bewusst aus, wenn er sich seinem Lieblingsthema zuwendet.
Vollends ins Unseriöse gleitet das Buch schließlich ab, als Todenhöfer sich der systematischen Verharmlosung von Diktaturen widmet. Die Anzahl von Synagogen und Kirchen im Iran dient ihm als Beleg dafür, dass die Lage der Juden und Christen dort so schlimm wohl nicht sein könne. Dabei hätte das deutsche Kaiserreich ihm als Beispiel dafür dienen können, dass die bloße Anzahl von Synagogen noch keine Aussage darüber zulässt, wie weit verbreitet Antisemitismus in Gesellschaft und staatlichen Organen ist. Todenhöfer schwärmt von der Existenz jüdischer Kindergärten und Schulen im Iran, weiß aber offenbar nicht, dass die letzte jüdische Zeitung in diesem Land in den 90er Jahren verboten wurde. Auch scheint ihn Präsident Ahmadinedschads Holocaustleugnerkonferenz aus dem Jahr 2006, an der Islamisten und Rechtsextremisten aus 30 Staaten teilnahmen (Horst Mahlers Beteiligung wurde durch die deutschen Behörden verhindert), nicht weiter zu stören. Ahmadinedschad selbst wird zwar von Todenhöfer negativ beurteilt, jedoch auch verharmlost: „Doch dieser politische Antizionismus ist nicht gleichbedeutend mit Judenhass und Antisemitismus.“ Was Antisemitismus ist, bestimmt Todenhöfer. Und er glaubt auch zu wissen: „Die Behandlung der Palästinenser entspricht nicht der sittlichen Größe und Einzigartigkeit des jüdischen Volkes“.
Auch den Christen geht es, wenn man Todenhöfer Glauben schenkt, im Iran doch eigentlich recht gut. In seiner wissenschaftlichen Schrift „Der islamistische Totalitarismus“ (herausgegeben von der European Foundation of Democracy) entwirft der Politologe Wahied Wahdat-Hagh ein gänzlich anderes Bild von der Situation religiöser Minderheiten im Iran: Er berichtet von durch Religionswächter organisierten Bibelverbrennungen (die Bibel darf im Iran nicht veröffentlicht werden) und der Verhaftung von Menschen, die zum Christentum übergetreten sind. Es existiert ein Verbot für Predigten in persischer Sprache. Den Bahai wird im Iran systematisch der Zugang zur Bildung verwehrt. Auf die Situation der Frauen, die Todenhöfer ebenfalls schönredet, möchte ich an dieser Stelle gar nicht erst eingehen – die Beispiele, mit denen man Todenhöfers Relativierungen widerlegen kann, würden Seiten füllen.
Besonders peinlich: Auch Todenhöfer gesteht ein, dass Juden und Christen als „Schutzbefohlene“ im Iran weniger Rechte haben als Muslime, relativiert dies aber sofort mit dem Hinweis, dass Muslime in Europa und Israel auch zu den Benachteiligten gehören. Die Wahrheit, die Todenhöfer nicht sehen will: In der westlichen Welt genießen Muslime volle Religionsfreiheit, können ohne Schwierigkeiten Gotteshäuser errichten und ihren Glauben leben. Nichts davon ist wahr im Hinblick auf religiöse Minderheiten im Iran.
Der Autor operiert durchweg mit diesen falschen Behauptungen und arbeitet bei dem Versuch, ein Feindbild zu beseitigen, an neuen Feindbildern. Todenhöfers Buch ist das Buch eines Mannes, der sich oft irrt. Im Februar 2011 sprach er in der Sendung „Maybrit Illner“ davon, die ägyptischen Muslimbrüder würden bei den nächsten Wahlen maximal 20% erhalten. Der Schriftsteller Rafik Schami warf Todenhöfer in einem Interview in der NZZ im Juni 2011 vor, sich vom syrischen Geheimdienst manipulieren und zu Propagandazwecken einspannen zu lassen. So habe Todenhöfer in seinem Syrienbericht noch nicht einmal erwähnt, dass am Tage seines Aufenthaltes in Daraa auf Demonstranten geschossen wurde. Todenhöfer verweist in seinen Büchern immer wieder darauf, wie oft er die islamische Welt bereist habe. Aber offenbar sieht er dort nur das, was er sehen will.
Letztlich ist der Westen bei Todenhöfer an allem schuld: am Terrorismus, am Wahlsieg Ahmadineschads, am Wiedererstarken der Taliban und der Hamas. Man gewinnt den Eindruck, dass im Weltbild des Autors Muslime nur als unmündige Kinder vorkommen, die für nichts Verantwortung tragen, während die vermeintlichen (westlichen) Eltern für alles zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Hier ist dem Autor der Vorwurf zu machen, dass er es selbst ist, der mit einer gewissen Geringschätzigkeit und Überheblichkeit auf die islamische Welt blickt – freilich ohne sich dessen bewusst zu sein. „Die Juden“ charakterisiert er hingegen auf Seite 54 als „stark und einflussreich“ – auch eine interessante Pauschalisierung.
Auf Seite 4 schreibt Jürgen Todenhöfer: „Nichts macht uns so verwundbar wie unsere Ignoranz.“ Wie wahr.
Thomas Baader