Über Selbstbestimmungsrecht und „We love Volkstod“
Über Selbstbestimmungsrecht und „We love Volkstod“[1]
Was bedeutet die muslimische Massenzuwanderung nach Europa für die marxistische Theorie der nationalen Frage. Angesichts einer Entwicklung, die in vielen europäischen Ländern wahrscheinlich auf muslimische Mehrheiten hinausläuft, stellt sich die Frage, ob das nationale Selbstbestimmungsrecht auch für die einheimischen europäischen Völker gilt – haben auch sie ein Recht auf ein ethno-kulturelles Überleben? Wir besprechen diese Themen mit Bezug auf die drei großen marxistischen Theorietraditionen in diesem Bereich.
Wenn sich die grundlegenden Parameter der demographischen Entwicklung und der muslimischen Massenzuwanderung aus Afrika und Südwest- und Zentralasien nicht wesentlich ändern, wird es in einem Gutteil der europäischen Staaten irgendwann in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts muslimische Bevölkerungsmehrheiten geben. Das würde die hiesigen Gesellschaften massiv verändern – ökonomisch, sozial, politisch und kulturell (siehe unseren Text „Multikulturalismus, Kalifat oder Bürgerkrieg?“). Teile der indigenen Bevölkerung würden sich der neuen muslimischen Hegemonie anpassen, Teile würden auswandern, der Rest würde marginalisiert und schließlich tendenziell als relevante Gruppe verschwinden.
Die Ideologie des Multikulturalismus ging und geht davon aus, dass das Ergebnis der außereuropäischen Massenzuwanderung eine bunte Vielfalt von ethnischen Gruppen und Kulturen mit einem grenzlosen Mix an Identitäten sein werde, was dann gerne als „Diversity“ bezeichnet wird. Diese romantische liberale Vorstellung wird wenig mit der Realität zu tun haben. Tatsächlich wird eine dominante Kultur durch eine andere ersetzt werden. Natürlich wäre die neue muslimische Hegemonialkultur ebenso wenig einheitlich wie die frühere säkulare europäische Kultur, es gäbe unterschiedliche Strömungen und Kräfte. Dennoch verliefe der Mainstream der neuen Gesellschaft anderswo, die muslimisch dominierte Gesellschaft wäre sicherlich religiöser, sittenstrenger, totalitärer und weniger verständnisvoll für „Diversity“ und „Anderssein“.
Angesichts solcher Perspektiven sollten sich die Arbeiter/inn/enbewegung und insbesondere Organisationen mit marxistischem Anspruch zumindest die Frage stellen, ob das nationale Selbstbestimmungsrecht auch für die indigenen europäischen Völker gilt – haben auch sie ein Recht auf ein Überleben als ethno-kulturelle Gruppe?
Nationen als eingebildete Gemeinschaften?
So manche postmoderne Akademikerin und so mancher grüner Diversity-Fan wird darauf mit der ironischen Gegenfrage antworten, was denn eine österreichische oder deutsche Kultur überhaupt sein solle. Mit Verweis auf regionale Unterschiede, diverse Subkulturen und verschiedene Lebensentwürfe wird einer deutschen oder österreichischen ethno-kulturellen Identität die bloße Existenz abgesprochen beziehungsweise ins Reich der Mythen verwiesen. Die geschichtswissenschaftlich Gebildeten berufen sich dabei auf den Historiker Benedict Anderson, der Nationen als „imagined communities“, also eingebildete Gemeinschaften, bezeichnete. Diese Sichtweise ist aber auch längst im Zentrum der Macht angekommen (passt sie doch bestens zum Multikulturalismus-Konzept der Eliten um Merkel, Sutherland und Soros): So schrieb im Mai 2017 Aydan Özoğuz, die Integrationsbeauftragte der deutschen Bundesregierung, dass eine spezifisch deutsche Kultur „jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar“ sei. Und Sigrid Maurer, bis 2017 Nationalratsabgeordnete der Grünen, fügte in ihrer universitären Abgehobenheit ironisch hinzu: „Was ist denn bitte die österreichische Kultur? Dass wir alle zu viel Schnitzel essen?“
Es ist natürlich wahr, dass keine Nation oder auch nur ethno-kulturelle Gemeinschaft völlig homogen ist – weder historisch noch aktuell. Historisch sind die meisten europäischen Völker Mischungen aus verschiedenen Völkerschaften, die Engländer/innen aus Kelten, Angelsachsen und Normannen, die französische Bevölkerung im Wesentlichen aus Kelten, Römern, Franken und später zugewanderten Italienern und Spaniern, die Deutschen überwiegend aus einigen germanischen Stämmen (Sachsen, Franken, Alemannen, Baiern…) mit einigen slawischen Einflüssen, Österreich als eine germanisch-slawische Mischung (keltische, römische und germanische Bevölkerungsreste aus der Völkerwanderungszeit, Alpenslawen, die sprachgebenden Baiern und später vor allem tschechische und südslawische Zuwanderung). Diese verschiedenen europäischen Völkerschaften sind, unter anderem aufgrund ähnlicher Kultur, zu ethno-kulturellen Gemeinschaften, zu Nationen zusammengewachsen und haben dabei gemeinsame gesellschaftliche Grundlagen des Zusammenlebens entwickelt. Dennoch sind auch aktuell (auch jenseits der außereuropäischen Zuwanderung) diese ethno-kulturellen Gemeinschaften nicht homogen: Neben unterschiedlichen Regionen, Subkulturen und Lebensentwürfen bestehen in jeder Nation vor allem auch unterschiedliche Klassen und Klasseninteressen.
Und ja, die Herausbildung von Nationen war immer auch mit historischen Mythen verbunden (in Österreich um die Habsburger, in Frankreich um Chlodwig etc. – und die EU versucht den christlichen Fanatiker und Massenmörder Karl „den Großen“ als europäische Identifikationsfigur aufzubauen). Die modernen Nationen entstanden aus dem Klasseninteresse des Bürgertums nach der Herausbildung von Nationalstaaten, nach einheitlichen Güter- und Arbeitsmärkten, Rechts- und Bildungssystemen. Aber diese modernen Nationen waren und sind keine reine Ideologie und Propaganda, sondern stützten sich auf vorhandene Gemeinsamkeiten einer Bevölkerung, und sie schufen materielle Fakten, nämliche eine gemeinsame Ökonomie, ein gemeinsames rechtliches und politisches System, gemeinsame historische Erfahrungen und immer mehr auch eine tatsächliche gemeinsame Geschichte. Nationen und ethno-kulturelle Gemeinschaften sind eben nicht nur Mythen, sondern auch Realität, sie sind Gemeinschaften, die durch eine Mischung von Territorium, Sprache, Ökonomie, Politik, kollektivem historischen Gedächtnis, kultureller Traditionen, Sitten und Bräuchen zusammengehalten sind. Zu den Traditionen und Sitten gehören nicht nur Religion oder irgendwelche uralten Volksfeste, sondern in Europa auch etwa der Säkularismus, die vorherrschende Lebensart im öffentlichen und privaten Raum oder das Zulassen von individuellen Lebensentwürfen.
Diejenigen, die insbesondere der deutschen und österreichischen, manchmal aber auch der englischen oder französischen Kultur das Bestehen absprechen, sind oft dieselben, die nachdrücklich dazu aufrufen, dass sich etwa türkische oder arabische Migrant/inn/en nicht in die europäische Kultur assimilieren und ihre spezifische Kultur bewahren, dass die jüdische Bevölkerung Europas ihre spezifische Tradition und Identität behält. Dabei sind natürlich auch die Türk/inn/en in Europa sehr heterogen, von atheistischen politischen Flüchtlingen bis zu reaktionären Islamisten. Und die jüdische Bevölkerung ist auch keineswegs einheitlich, sie weist nicht nur ein Spektrum von linken Intellektuellen bis hin zu Ultraorthodoxen auf, sondern unterscheidet sich auch in der Haltung zu Israel und in der Lebensweise sehr stark. Bei den bisherigen europäischen Mehrheitsbevölkerungen ist für Özoğuz, Maurer & Co. also keine spezifische Kultur identifizierbar, bei den bisherigen Minderheiten sehr wohl. Dieser offenkundige Widerspruch ist schlicht und einfach ein ideologischer Ausdruck der Agenda des neoliberalen Großkapitals, das die europäischen Nationen als Hindernis sieht und sie auflösen will.
Gute und böse Nationen?
Eine andere Argumentationsschiene in der linken Szene (Autonome, Antideutsche…), unter Grünen und „fortschrittlichen“ Intellektuellen erkennt durchaus an, dass es Nationen und ethno-kulturelle Gemeinschaften gibt, kategorisiert sie aber in Gut und Böse. Gut sind für sie alle Völker, die kolonisiert waren, Migrant/inn/en und Minderheiten und insbesondere die Juden/Jüdinnen als Opfer des NS-Massenmordes. Die Bösen sind sämtliche kolonialistisch-unterdrückerische europäischen Völker und insbesondere die Deutschen und Österreicher/innen als das „Tätervolk“ schlechthin. Als eine Art späte Strafe für Kolonialismus und besonders für das Nazi-Regime haben diese Völker /Nationen, zumindest ist das die implizite Logik dieser Denkrichtung, ihre Auslöschung als ethno-kulturelle Gemeinschaft verdient – nämlich durch Massenzuwanderung und Multikulturalismus. Diese Art von Argumentation ist allerdings hinten und vorne unhaltbar.
Erstens ist so eine Argumentationsschiene im Einzelfall problematisch, denn was ist beispielsweise mit den Arabern oder Türken. Immerhin bedeutete die arabisch-islamische kriegerische Expansion die meist brutale Unterwerfung und Unterdrückung von diversen Völkern von Zentralasien bis zu den Berber/inne/n in Nordafrika, immerhin stand der arabische Sklavenhandel dem transatlantischen um nichts nach und führte zu Verschleppung von und Mord an vielen Millionen Menschen. Immerhin bedeutete die türkisch-osmanische kriegerische Expansion die Vernichtung der ursprünglichen Völker in Anatolien, die Unterdrückung der Völker am Balkan und die Versklavung und Verschleppung von Millionen Menschen von dort, immerhin führte der türkische Nationalismus eine Vernichtungspolitik gegen die kleinasiatischen Griech/inn/en und gegen die Armenier/innen sowie eine Politik der Zwangsassimilierung gegenüber den Kurd/inn/en durch. Haben aufgrund dieser Geschichte auch die Araber/innen und Türk/inn/en ihr Existenzrecht als ethno-kulturelle Gemeinschaften verwirkt?
Zweitens ist eine Einteilung in „fortschrittliche“ und „reaktionäre“ Völker historisch ein grober Unsinn. Schon die „Theorie der geschichtslosen Völker“ von Karl Marx und Friedrich Engels, die abwertend unter anderem von „Völkerabfällen“ und „Völkerruinen“ gesprochen haben, hat sich als theoretisch und praktisch falsch herausgestellt. Die kleinen slawischen Völker in Ost- und Südosteuropa, denen die Begründer der Marxismus Mitte des 19. Jahrhunderts de facto das Existenzrecht absprachen, haben sich später zu selbstbewussten kleinen Nationen entwickelt. Und Russland haben Marx und Engels als Hort der Reaktion betrachtet, was es unter dem Zarismus auch war, ab 1905 und dann 1917 nahm das Land aber eine revolutionäre, avantgardistische Rolle ein. Deutschland wurde von Marx und Engels zu Recht als Hochburg der 1848er-Revolution und der Arbeiterbewegung gesehen, nach der Niederlage im 1. Weltkrieg und dem Scheitern der darauf folgenden Revolution entstand in genau diesem Land die Barbarei der Nazis. Die USA, aus dem Unabhängigkeitskampf ehemaliger Kolonien hervorgegangen, waren eine frühe Demokratie und ein Zufluchtsort für in Europa Verfolgte, mit ihrem Aufstieg zur imperialistischen Hauptmacht wurden sie zum Zentrum der globalen kapitalistischen Ausbeutung und zum wichtigsten Drahtzieher diktatorischer Regimes in allen Erdteilen. Historische Wendepunkte können die Rolle von Nationen verändern, das war in der Vergangenheit so und wird in Zukunft so sein. Keine Nation oder ethno-kulturelle Gemeinschaft ist an sich reaktionär oder fortschrittlich.
Drittens und vor allem besteht jede ethno-kulturelle Gemeinschaft aus Klassen und verschiedenen politischen Kräften. Nicht alle Russ/inn/en hangen dem Zarismus an, nicht alle Brit/inn/en waren Fans des Kolonialismus, nicht alle Deutschen unterstützten die NSDAP, nicht alle US-Amerikaner/innen waren mit der CIA-Politik in Lateinamerika oder dem Vietnamkrieges einverstanden, nicht alle Araber/innen folgen dem Islamismus. Und in jeder modernen Nation besteht die Mehrheit der Bevölkerung aus ausgebeuteten Lohnabhängigen, die bei den wesentlichen Entscheidungen der herrschenden Klasse nur wenig mitzureden haben. Wie weit sie es schaffen, ein organisiertes politisches Gegenprojekt auf die Beine zu stellen, hat mit einer Reihe von Faktoren zu tun. In jedem Fall hängt von den Ergebnissen des Klassenkampfes (in all seinen Formen) ab, wie stark fortschrittliche und reaktionäre Elemente in einer Nation sind. In jeder Nation sind das verschiedene und veränderliche Mischungen – und Marxist/inn/en werden jeweils mit Klassenkampfmethoden für eine Stärkung der solidarischen, rebellischen, säkularen etc. Elemente eintreten.
Marxistische Theorietraditionen
Die erste marxistische Traditionslinie ist diejenige, die auf die positiven Elemente bei Marx und Engels zurückgeht, nämlich auf ihre Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts Irlands gegenüber Großbritannien. Sie sahen die irische Loslösung und damit die Beseitigung einer nationalen Konfliktlinie auch als Beitrag zum Emanzipationskampf der englischen Arbeiter/innen/klasse. Dieser territoriale Ansatz wurde später von Wladimir I. Lenin und den Bolschewiki fortgeführt, die Nationen als Gemeinschaft von Sprache, Territorium, Wirtschaft und Kultur sahen und für das Selbstbestimmungsrecht bis hin zu Lostrennung eintraten. Dieses demokratische Recht sollte von der Arbeiter/innen/bewegung unterstützt und mit dem Klassenkampf verbunden werden, die proletarischen Parteien selbst sollten nationenübergreifend organisiert sein.
Die zweite Konzeption wurde von Austromarxisten (Etbin Kristan, Karl Renner, Otto Bauer) und dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund (der große Teile der jiddisch-sprachigen Arbeiter/innen in Osteuropa organisierte) vertreten. Sie sahen Nationen vor allem als Kulturgemeinschaften (Bauer sprach auch von Schicksals- und Charaktergemeinschaften), und ihr Ziel einer „national-kulturellen Autonomie“ stützte sich auf das Personalitätsprinzip; parallel zu den staatlichen Verwaltungen sollten nationale Selbstverwaltungsstrukturen unabhängig von Territorien alle Angehörigen einer Sprache/Nation umfassen und für Sprache, Schule und Kultur zuständig sein. Mit dieser Trennung der nationalen Frage von ihrer ökonomischen, staatlichen und politischen Grundlage wollten die Austromarxisten und der Bund die Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn beziehungsweise Russland aufrechterhalten.
Der dritte Ansatz wurde von Rosa Luxemburg, dem Niederländer Anton Pannekoek und Josef Strasser, einem Anführer der sudetendeutschen Arbeiter/innen/bewegung, formuliert; er wurde zu Recht als abstrakter Internationalismus bezeichnet. Diese Autor/inn/en stellen den nationenübergreifenden Klassenkampf in den Vordergrund, sehen Nationen als etwas Rückschrittliches, und zumindest Luxemburg und Pannekoek lehnen das Recht auf Lostrennung explizit ab. Sie berücksichtigen nicht ausreichend die vorhandene nationale Unterdrückung, beschränken sich in der nationalen Frage auf Forderungen nach gleichen sprachlich-kulturellen Möglichkeiten und akzeptieren so letztlich immer den Status quo, die von der herrschenden Kapitalist/inn/enklasse vorgegebenen staatlichen und nationalen Rahmenbedingungen (womit sich die „Ultralinken“ wieder mit den „rechten“ Austromarxisten treffen).
Während (jedenfalls in Österreich und Deutschland) ein großer Teil der gegenwärtigen universitären und grünen „Linken“ in der nationalen Frage – meist ohne Bewusstheit darüber – mit Fragmenten der austromarxistischen und/oder ultralinken Traditionslinien hantiert, sieht es bei den Strömungen mit marxistischem Anspruch anders aus. Sowohl sowjetstalinistische und maoistische Parteien als auch trotzkistische Organisationen und die „unabhängige“ radikale Linke aus der 68er-Tradition orientierten sich in der nationalen Frage zumindest theoretisch weitgehend an Lenin und dem Selbstbestimmungsrecht bis hin zur Loslösung von bestehenden Staaten (in der Praxis gab es immer wieder auch Anpassungen an die Innen- und Außenpolitik der sowjetischen Staatsbürokratie sowie an die Politik des Kapitals).
Auch wir sehen das Selbstbestimmungsrecht als grundlegendes demokratisches Recht, das wichtiger ist als von den Herrschenden diktierte Grenzziehungen etc., ein Recht, das die Arbeiter/innen/bewegung verteidigen und mit Klassenkampfmethoden kombinieren muss. In Zusammenhang mit diesem Verständnis begrüßen wir grundsätzlich nicht nur die sprachliche, sondern insgesamt die kulturelle Vielfalt, die die Menschheit unter dem Einfluss von Klima, Landschaft, Wirtschaft und Geschichte entwickelt hat und die wir gegen ökonomisch-politischen Druck und die kommerzorientierte Nivellierung der kapitalistischen Kulturindustrie verteidigen. Innerhalb jeder einzelnen Kultur fördern wir, wie gesagt, die solidarischen, rebellischen, säkularen etc. Elemente und bekämpfen Elemente von Unterdrückung, Frauenfeindlichkeit, religiösem Aberglauben etc. Bei einer Durchsetzung einer antikapitalistischen und wirklich sozialistischen Perspektive würde in der Konsequenz von mancher Kultur weniger übrig bleiben, von mancher mehr. Im Folgenden werden wir versuchen, unsere grundlegende Position zum Selbstbestimmungsrecht auf konkrete Fälle in Geschichte und Gegenwart anzuwenden.
Wo gilt das Selbstbestimmungsrecht?
Marx und Engels waren also für das Selbstbestimmungsrecht Irlands, Lenin für das der unterdrückten Nationalitäten in Russland und Österreich-Ungarn. Marxist/inn/en sind traditionell dafür eingetreten, dass etwa die slowenische Minderheit in Kärnten oder die Kors/inn/en in Frankreich nicht durch ökonomischen und politischen Druck assimiliert werden, sondern ihre politische und staatliche Zukunft selbst entscheiden können. Die meisten „fortschrittlichen“ Kräfte lehnen die Marginalisierung der „Indianer“ durch weiße Siedler/innen oder der Tibeter/innen durch die chinesische Ansiedlungspolitik ab. Der Großteil der französischen Linken kritisierte die Verdrängung der Kanak/inn/en, also der Urbevölkerung Neukaledoniens, durch französische Besiedlung. Und die allermeisten linken Organisationen verteidigen die Kurd/inn/en gegen die Zwangsassimilierungspolitik des türkischen Staates und ihr Selbstbestimmungsrecht.
Nun könnte man argumentieren, dass es sich in diesen Fällen allesamt um ökonomisch rückständige ethnische Gruppen handelt, denen von imperialistischen oder zumindest wirtschaftlich überlegenen und unterdrückerischen Nationen zugesetzt wird. Gilt aber das Selbstbestimmungsrecht auch für Ethnien, die nicht ökonomisch ausgebeutet und unterdrückt werden? Wir denken, dass das grundsätzlich der Fall ist. Schon Lenin war auch für das Selbstbestimmungsrecht Polens und der baltischen Völker, die ökonomisch entwickelter waren als die anderen Teile des russischen Reiches, aber politisch/national unterdrückt. Die Arbeiter/innen/bewegung, die weder vor der Repression des spanischen Zentralstaats kapituliert noch der Traditionslinie Rosa Luxemburgs anhängt, trat auch immer für das Recht auf Lostrennung Kataloniens und des Baskenlandes ein, obwohl sie die wirtschaftlich stärksten Regionen des spanischen Staates sind. Und die unabhängige italienische radikale Linke positionierte sich für das Selbstbestimmungsrecht Südtirols und gegen die dortige in faschistischer Tradition stehende Italienisierungspolitik.
Gilt das Selbstbestimmungsrecht bis hin zur Lostrennung also für jede Nation oder ethnische Gruppe, die sich mehrheitlich national/politisch unterdrückt fühlt? Ja, unserer Meinung nach ist das im Wesentlichen so – Grenzziehungen nach dem Wunsch der betroffenen Bevölkerung als ein demokratisches Grundrecht, dessen Ausübung überdies oft nationale Konflikte entschärft und so die klassenkämpferische Organisierung der Lohnabhängigen erleichtert. Ausnahmen gibt es unseres Erachtens nur wenige, etwa wenn nationale oder ethnische Gruppierungen für imperialistische Aggressionskriege instrumentalisiert werden. Beispiele? Erstens nach der russischen Oktoberrevolution der Versuch des Entente-Imperialismus, die nationale Frage im Kaukasus für einen Angriff auf die junge Sowjetunion zu nutzen. Zweitens die Instrumentalisierung des ukrainischen Nationalismus durch die Nazis bei ihrem Eroberungskrieg in Osteuropa. Drittens die Unterstützung der kosovarischen Nationalisten für den NATO-Angriffskrieg auf Restjugoslawien 1999. Obwohl grundsätzlich das Selbstbestimmungsrecht der kaukasischen Völker, der Ukraine (bzw. ihrer Teile, die sich nicht als russisch verstehen) und des Kosovo (abzüglich der serbischen Mehrheitsgebiete nördlich Mitrovica) zu unterstützen ist, wäre es in den konkreten Situationen „auszusetzen“, das heißt, der Verteidigung gegen den Angriff von Entente, Nazis, NATO unterzuordnen.
Selbstbestimmungsrecht für europäische Nationen?
Was bedeuten diese Überlegungen und Beispiele nun für die konkrete Situation, für die europäischen Völker und Nationen? Ist ihr Überleben als ethno-kulturelle Gemeinschaften gefährdet? Sind sie national unterdrückt? Das ist zunehmend der Fall – und zwar existenzbedrohend. Mit fortgesetzter Massenzuwanderung aus Afrika und Südwest- und Zentralasien und den höheren Geburtenraten der Muslime werden die indigenen europäischen Bevölkerungen und ihre fortschrittlichere säkulare Kultur zunehmend verdrängt werden; in immer mehr Gebieten werden sie die Minderheit und schließlich marginalisiert sein. Es handelt sich hier also nicht nur um eine fortgesetzte politische Benachteiligung oder ähnliches, sondern perspektivisch um die Vernichtung vieler europäischer Völker, also um die weitreichendste Form der nationalen Unterdrückung.
Nun könnte man einwenden, dass die tendenzielle Auslöschung der europäischen Ethnien nicht durch Repression eines Nationalstaates erfolgt, sondern eben durch Zuwanderung und Geburtenraten. Das ist aber nicht nur ein formalistisches Argument, sondern diese demographischen Entwicklungen sind eben weder ein Naturgesetz noch rein individuelle Entscheidungen. Sie werden vielmehr vom Mainstream des neoliberalen und globalistischen Großkapitals Europas und Nordamerikas und seinen Handlanger/innen in EU, Regierungen, UNO, „Denkfabriken“ und NGOs seit vielen Jahren gezielt und systematisch vorangetrieben, um ökonomische Ausbeutungs- und politische Herrschaftsinteressen durchzusetzen (siehe unseren Text „Gangs of New York“). Ähnlich wie im Absolutismus die Könige und Kaiser ihre dynastischen und Ausbeutungsinteressen gegen die nationalen Interessen der Völker (etwa in Italien oder Deutschland) gestellt haben, unterdrückt und zersplittert auch heute die herrschende Klasse das eigene Volk. Darüber hinaus gibt es mit der Türkei und Saudi-Arabien auch mächtige kapitalistische Staaten, die die Islamisierung Europas bewusst betreiben. Auch wenn vorläufig die durchschnittlichen indigenen Europäer/innen wohlhabender sind als die Zuwanderer/innen, kann also durchaus argumentiert werden, dass von Staaten und dem Globalisierungsestablishment eine politische Unterdrückung und Verdrängung der indigenen Ethnien Europas forciert wird.
Ein weiterer Einwand könnte lauten, dass es durchaus ein Recht auf ein ethno-kulturelles Überleben der Europäer/innen gäbe, das aber ein individuelles Recht sei (das etwa gegen einen Totalitätsanspruch eines politischen Islams zu verteidigen sei; Diversity im Kalifat sozusagen). Unserer Meinung nach ist ein solches „Recht“ ohne Territorium perspektivisch irrelevant. Wenn eine schrumpfende Anzahl von verstreuten Europäer/inne/n in islamisch beherrschten europäischen Ländern als Minderheiten in vor allem ländlichen Gebieten lebt, können Lebensart, Kultur und Traditionen nicht wirklich zur Entfaltung kommen (als Beispiel sei nur die Bewegungsfreiheit von Frauen ohne Kopftuch im öffentlichen Raum genannt), und sie wären letztlich auf die Gnade des Kalifats gegenüber den „Ungläubigen“ angewiesen. Ohne eigenes Territorium ist ein solches individuelles Recht einer ethno-kulturellen Identität also nicht viel Wert. Und das Recht auf Selbstbestimmung und Überleben als ethnische Gruppe von Territorium zu trennen, wäre schließlich auch ein Rückgriff auf die „nationalkulturelle Autonomie“ der Austromarxisten und des Bundes, also ein Konzept, das seine Untauglichkeit schon vor hundert Jahren bewiesen hat.
Gegenargumente
Welche Argumente gegen das Recht auf ein ethno-kulturelles Überleben der europäischen Völker könnte es sonst noch geben? Gibt es etwa andere entgegenstehende Rechte, die höher zu bewerten wären? Die Verteidigung des nationalen Selbstbestimmungsrechts der Europäer/innen ist jedenfalls nicht Teil eines imperialistischen Angriffskrieges auf irgendein Land, im Gegenteil betreibt das imperialistische Establishment die Auflösung der europäischen Nationen im Zuge seiner kapitalistischen Globalisierung. Aber ist nicht die Niederlassungsfreiheit aller Menschen auf diesem Planeten ein höherer Wert? Mit dieser Logik wäre ein ethnisches Selbstbestimmungsrecht grundsätzlich und global aufgehoben, mit ihr hätte weder die Verdrängung der „Indianer/innen“ durch die US-Siedler/innen oder die Russifizierungspolitik im Baltikum noch die Germanisierungspolitik in Südkärnten oder die Italienisierung Südtirols kritisiert werden können, wo auch immer Druck und Interessen von herrschenden Kräften dahinter standen.
Ein sehr grundlegendes universalistisches Gegenargument lautet, dass doch mehr oder weniger alle Völker oder ethnischen Gruppen irgendwann irgendwo eingewandert sind und/oder sich mit anderen Gruppen vermischt haben. Das stimmt in langer historischer Perspektive natürlich auch für Europa; auch die indogermanischen (also romanischen, germanischen, slawischen…) Völker waren nicht immer in ihren aktuellen Gebieten, eine europäische Urbevölkerung wären nach heutigem Forschungsstand dann wohl nur die Bask/inn/en. Ein solches Argument ist aber halt eher abgehoben, verschleiert konkrete aktuelle politische Fragestellungen und trägt nicht dazu bei, darauf brauchbare Antworten zu entwickeln. Und wenn man es zur Richtlinie erklären würde, wäre damit nicht nur das Recht auf ein ethnisches Überleben der europäischen Völker ausgehebelt, sondern das Selbstbestimmungsrecht grundsätzlich und weltweit, von den Rohingya in Myanmar über Kurdistan bis nach Katalonien.
Aber ist nicht zumindest die Hilfe für Migrant/inn/en aus ärmeren Ländern wichtiger als das ethno-kulturelle Überleben der vergleichsweise reichen europäischen Völker? Das halten wir für ein demagogisches Argument, denn es versucht, scheinbare Humanität für ein politisches Projekt zu instrumentalisieren: Geholfen wird in Europa der sehr kleinen Gruppe von Migranten aus armen Ländern, die es hierher geschafft hat. Diese stammt meist aus wohlhabenderen Clans, die die Reise finanzieren können. Die große Mehrheit und darunter jedenfalls die ärmsten Bevölkerungsteile bleiben in den armen Ländern zurück und erhalten kaum Hilfe (obwohl mit den vielen Milliarden, die in Europa die neuen Migrant/inn/en kosten, in den armen Ländern die 30-50-fache Menge von Menschen versorgt werden könnte). Und gleichzeitig zerstört dasselbe Globalisierungsestablishment, das über seine Denkfabriken, Stiftungen, NGOs, Regierungen und EU die Massenzuwanderung fördert, durch die ökonomische Ausbeutung die Lebensgrundlagen in den armen Ländern. Eine wirklich humane Antwort muss hier ganz woanders ansetzen.
Politische Konsequenzen
Die meisten deutschsprachigen Grünen und Linken bewegen sich irgendwo zwischen Multikulturalismus-Illusionen und Hass auf die Kultur und Tradition des eigenen Landes, und sie landen irgendwo zwischen Beschönigung des Islam, Unterstützung der von den Eliten betriebenen Massenzuwanderung und „We love Volkstod“ (eine Auseinandersetzung mit dem gestörten Verhältnis dieses Milieus zur eigenen Bevölkerung würde hier den Rahmen sprengen und muss an anderer Stelle erfolgen). Sie sind damit völlig abgehoben von der großen Mehrheit der Lohnabhängigen, die einem steigenden Einfluss der rückständigen islamischen Kultur weitgehend zu Recht skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Natürlich gibt es in dieser Stimmung auch fremdenfeindliche Ressentiments, zu guten Teilen geht es aber auch um die Verteidigung einer Lebensweise, in der Säkularismus und erhebliche Errungenschaften bezüglich Familienstrukturen und Frauenrechten eine wichtige Rolle spielen. Es geht damit objektiv um die Verteidigung einer höher entwickelten säkularen Kultur gegenüber einer rückständigen religiös geprägten; und damit auch von Rechten und Möglichkeiten der Arbeiter/innen/klasse. Und die große Mehrheit der indigenen Bevölkerung und insbesondere der Lohnabhängigen will auch – bewusst oder unbewusst – die ethno-kulturelle Identität des Landes erhalten und nicht zur Minderheit in einer islamisch geprägten Gesellschaft werden.
Und dieser Wunsch sollte nicht als reaktionär abgetan werden (wie das viele Linke/Grüne tun). Marxist/inn/en sollten diesen Wunsch als legitim anerkennen und das Selbstbestimmungsrecht der Europäer/innen, das Recht auf ein ethno-kulturelles Überleben der europäischen Völker, verteidigen. Sie sollten das aber nicht in politischer Unterordnung unter die bürgerlichen Kräfte tun, die sich diese Verteidigung auch auf die Fahnen geschrieben haben. Marxist/inn/en müssen vielmehr auch in diesen Fragen einen Klassenstandpunkt der Lohnabhängigen entwickeln und das Selbstbestimmungsrecht der europäischen Völker mit Klassenkampfmethoden verteidigen. Sie dürfen den Widerstand gegen das Globalisierungsestablishment nicht auf diese Frage beschränken, sondern sie mit einem Kampf gegen den globalen neoliberalen Kapitalismus verbinden.
Ein solcher Kampf ist natürlich vielschichtig. Er bedeutet insbesondere Selbstorganisation der Arbeiter/innen, Streiks und andere Klassenkampfaktivitäten gegen die Großkonzerne. Notwendig sind aber auch eine Reihe von politischen Forderungen, speziell im Verhältnis Europas zu Afrika und dem islamischen Raum. Die Arbeiter/innen/bewegung muss gegen die ökonomische Ausbeutung dieser Länder durch westliche Konzerne auftreten, für das Ende der Handelsabkommen, die dort Landwirtschaft und Fischerei ruinieren, für den Rückzug aller westlichen Truppen aus islamischen und afrikanischen Ländern, für eine Beendigung der westlichen Unterstützung für die Regimes in Saudi-Arabien, der Türkei etc. Mit abgeschöpften Milliarden aus Spekulations- und Konzerngewinnen sollten die ökonomische Entwicklung der rückständigen Länder und die Grundversorgung für die wirklich armen Bevölkerungsteile sichergestellt werden. Mit einer Förderung von staatlichen Anreizen sollten in den afrikanischen und islamischen Ländern eine Bevölkerungspolitik nach chinesischem Vorbild (wenige Kinder, garantierte medizinische und Lebensmittelversorgung) unterstützt werden, um Kindersterblichkeit, Armut, demographischen Druck und die ökologischen Folgen zu bekämpfen. Europäische Gewerkschaften und andere Arbeiter/innen/organisationen sollten insbesondere Arbeitskämpfe in Ländern wie Ägypten, der Türkei oder Indonesien unterstützen, auch als politisches Gegengewicht zu den Islamist/inn/en.
Wir haben über die oben formulierten Punkte lange nachgedacht, immerhin kommen wir alle aus einer politischen Tradition, die vor allem europäischen oder westlichen Chauvinismus gegenüber anderen Kulturen bekämpft hat. Wir denken aber, dass sich in den letzten Jahren vieles geändert hat und die wahrscheinlichen Perspektiven für Europa es notwendig machen, Dinge neu zu denken und auch an Tabus zu rütteln. Wir behaupten nicht, dass die in diesem Text vorgelegten Überlegungen der Weisheit letzter Schluss sind. Wir sind uns aber sicher, dass es wichtig ist, dass Marxist/inn/en und die Arbeiter/innen/bewegung diese Fragen offen und ohne Denkverbote diskutieren.
(verfasst im Oktober und November 2017, einige spätere Ergänzungen)
[1] Erschienen in: Marxismus gegen Islamisierung (MAGIS): Von einer schonungslosen Lageeinschätzung zu einer Neuausrichtung der Arbeiterinnenbewegung. Osnabrück. 2018. S. 99 – 113.