Die Selbstdemontage Europas – das destruktive Altersversagen des westlichen Spätkapitalismus

 In Spätkapitalistische Systementwicklung

Infolge der Verknüpfung von geistig-kultureller (Aufklärung), antifeudaler und industrieller Revolution avancierte Europa im 19. und 20. Jahrhundert zum zivilisatorischen Zentrum der Welt. Trotz des späteren Kolonialismus, Imperialismus und zweier Weltkriege sowie der kapitalistischen Negation zahlreicher emanzipatorischer Gründerideale gelang hier erstmalig und nachhaltig die endogene Überwindung vormoderner Herrschaftsverhältnisse sowie die Hervorbringung eines ganzen Ensembles „moderner“ (postraditionaler) Prinzipien: So das Konzept der universellen Menschenrechte (gegen die ständisch-religiöse Zuteilung von Lebensrechten), die Trennung von Staat, Religion, Recht und Privatsphäre, die Idee des freien und emanzipationskompetenten Individuums, das Regulativ der Gewaltenteilung, die Prinzipien der Volkssouveränität, der Demokratie sowie der Rechtsbindung des Regierungsinstanzen etc. Kurzum: Europa ist die Geburtsstätte der kulturellen Moderne und einer säkular-menschenrechtlichen Lebensordnung. Dieses revolutionäre Sozialerbe könnte die probate Identitätsgrundlage einer kulturhistorisch gewachsenen Wertegemeinschaft bilden, die es gegen spätkapitalistische (Selbst-)Negationen und nichtwestlich-herrschaftskulturelle Anfeindungen zu bewahren und auszubauen gälte.

In seinem Buch „Die letzten Tage von Europa“ verweist Walter Laqueur auf den irreversiblen Bedeutungsverlust, dem das „schrumpfvergreisende“ Europa ausgesetzt sein wird: Lebten im Jahre 1900 noch 21 Prozent der Weltbevölkerung in Europa, so werden es am Ende des 21. Jahrhunderts weniger als vier Prozent sein. Angesichts dieser Rückentwicklung wird Europa, so Laqueur, „möglicherweise zu einem kulturellen Themenpark für betuchte Besucher aus China und Indien werden, zu einer Art Disneyland auf kulturell hohem Niveau – eine Art Brügge, Venedig, Versailles, Stratford on Avon und Rothenburg ob der Tauber im großen Maßstab“ (S. 19).

Besucht man in Rothenburg ob der Tauber das Mittelalterliche Kriminalmuseum, so kann man folgende Tatbestände und Eindrücke auf sich einwirken lassen:

  1. Wie überraschend (?) gering die Unterschiede zwischen der christlich-mittelalterlichen und der orthodox-islamischen Rechts- und Bestrafungspraxis sind („Katholische Scharia“).

2 Welche extreme Zäsur die neuzeitlich-abendländischen Revolutionen gegen die vormoderne christlich-feudale Herrschaftskultur darstellen.

  1. Wie paradox und indolent die Nachgiebigkeit und Hinnahmebereitschaft vieler selbstvergessener Europäer gegenüber der weithin noch ungebrochenen und sich überdies radikalisierenden Vor-Modernität der islamischen Herrschaftskultur anmutet.

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Anstatt nun das Erbe der kulturellen Moderne als Basis einer politisch-kooperativen Werteunion zu nehmen und als europäische Wertegemeinschaft in den globalen interkulturellen Verkehr einzutreten, waren und sind die großkapitalistisch determinierten Herrschaftsträger Europas davon besessen, a) Europa im Interesse kurzsichtiger ökonomistisch-utilitaristischer Nutzenkalküle in Gestalt einer fehlkonzipierten „Währungsunion“ zu deformieren bzw. zu ruinieren und b) bei strikter Negation der Grundprinzipen der kulturellen Moderne einen Great Deal mit menschenrechtswidrigen nichtwestlichen Herrschaftskulturen zu forcieren. Ein aktuelles Beispiel ist das deutsche Panzergeschäft mit den islamischen Despoten Saudi-Arabiens.

Die unausgegorene, überstürzte und undemokratische Herbeiführung einer „Währungsunion“ aus disparaten und zu vielen Volkswirtschaften mit sehr uneinheitlichen technologischen Standards, divergierenden Arbeitsproduktivitätsniveaus, unterschiedlichen sozial-, arbeits- und steuerrechtlichen Strukturen, inhomogenen Konsum-, Ausgabe und Sparverhaltensweisen etc. ohne ein konsequentes Regelsystem war die Ausgeburt ökonomischer Unvernunft, die von vornherein mit der hohen Wahrscheinlichkeit eines Desasters behaftet war. Hinzu kam die Aufnahme von Mitgliedern wie Griechenland, das sich mit gefälschten Beitrittspapieren Zugang verschaffte und eine Einnahme-Ausgabe-Disbalance aufwies, für die man die ehemalige DDR bzw. das „ostdeutsche Beitrittsgebiet“ eben noch verhöhnt hatte. Steuersenkungen für die Reichen sowie weit verbreitete Steuerhinterziehung und Schattenwirtschaft auf der einen, schier unglaubliche Vergünstigungen und Privilegien für bestimmte Gruppen in der Staatswirtschaft auf der anderen Seite mussten zwangsläufig in den Staatsbankrott führen, zu dessen künstlicher Vermeidung nun – entgegen den EU-Verträgen – riesige Summen im Rahmen so genannter Rettungsschirme aufgewendet werden müssen. Aus der Währungsunion ist mithin – entgegen den Bestimmungen der EU-Verträge und den Grundeinstellungen der ungefragten Bevölkerungen – eine Transferunion geworden. Auf diese Weise überträgt sich die Verschuldung einzelner Länder wie eine Infektionskrankheit auf den gesamten Beitrittsraum und dynamisiert die nationalen Verschuldungsszenarien. Im Ergebnis hat sich mittlerweile ein verheerender Antagonismus zwischen Schuldnerländern und Geber- bzw. Gläubigerländern herauskristallisiert, der die Leitidee eines einheitlichen Europas zu zerstören droht. Denn in den verschuldeten Staaten wie Griechenland, Irland, Portugal und Spanien wächst der (militante) Widerstand gegen die verordneten Sparprogramme; in den Gläubigerländern hingegen wächst die Empörung gegen die ständigen Milliardenhilfen und die dadurch verschärfte nationale Staatsverschuldung.

Infolge dieser zunehmenden ökonomisch-politischen Selbstdemontage Europas wird der ohnehin drohende Bedeutungsverlust des ehemals zivilisatorisch führenden Kontinents noch einmal massiv verstärkt. Der Geburtenrückgang könnte auch als eine intuitive Reaktion auf diesen Niedergangsprozess gedeutet werden.

Unbeeindruckt durch die sich zuspitzende Krisenentwicklung im EU-Raum drehen tonangebende Vertreter des Großkapitals schon am nächsten Rad der ruinösen Krisenverschärfung. Diese Kräfte interessieren sich jenseits wohlfeiler Worthülsen wie eh und je nicht für die politischen und sozialen Folgekosten ihrer kapitallogischen Gewinnmaximierungsstrategie, sondern sind strikt auf neue Absatz- und kostengünstigere Arbeitsmärkte erpicht: Warum nicht auf Halal-Produkte setzen und Exportgeschäfte mit menschenrechtsfeindlichen Regimen wie Saudi-Arabien oder dem Iran abschließen, wenn’s der Profitrate dient? So forderte der Daimler-Chef Zetsche vehement den EU-Beitritt der Türkei, wodurch der Niedergangsprozess Europas noch einmal rasant beschleunigt würde: „Für mich ist es schlicht unverständlich, dass wir einen ‚Tigerstaat’ wie die Türkei, der vor unserer Haustür liegt und zu uns kommen will, nicht herein lassen“[1]. Was Zetsche verschweigt ist der Tatbestand, dass der türkische ‚Tigerstaat’ ein schuldenfinanzierter Papiertiger ist. Wie die Kamu-Sen, der türkische Gewerkschaftsverband in einer Untersuchung herausfand, haben 95,1% der türkischen Bevölkerung Schulden. Da die überwiegende Mehrheit große Schwierigkeiten bei der Rückzahlung der Schulden habe und dem Schuldensumpf kaum entrinnen könne, befürchtet der Vorsitzende der Kamu-Sen, Ismail Koncuk, eine soziale Explosion[2].

Hinzu kommt, dass die durch das Aufspannen von Rettungsschirmen ohnehin schon überforderte EU noch einmal zusätzlich 125 Milliarden Euro für einen EU-Beitritt der Türkei aufbringen müsste. Bereits seit 2007 hat die Türkei laut Statistik der EU-Kommission ca. drei Milliarden Beitrittshilfe erhalten. Hätte die Aufnahme der Türkei in die EU in soziokultureller Hinsicht die gleiche Rationalität wie die Aufnahme von Nonnen in einen Swingerclub[3], so wären – angesichts der sich zuspitzenden Schuldenkrise – die sozialökonomischen Folgen absehbar so desaströs, dass man im Falle eines wirklichen EU-Beitritts der Türkei gespannt sein darf, ob es nicht auch in Deutschland und Österreich zu Protesten wie in Griechenland und Spanien kommen könnte. „Die enormen Einkommensdifferenzen zwischen der Türkei und der EU werden über Jahrzehnte hinweg bestehen bleiben. Der Migrationsdruck wird dabei vor allem auf Deutschland und Österreich langfristig sehr hoch sein. Da das Ausbildungsniveau der türkischen Arbeitnehmer erheblich niedriger ist als in der EU, werden sie eine zusätzliche Belastung für den europäischen Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme bedeuten“ (Koblischke/Hochleitner 2007, S. 165).

Dem doppelten Würgegriff spätkapitalistischer und islamischer Herrschaftsinteressen ausgesetzt, könnte Europa nur vermittels einer neuen progressiven Protestbewegung den gesellschaftlichen Niedergang abschwächen. Doch dafür gibt es derzeit – nach der Selbstzerstörung der europäischen Linken – noch nicht einmal zarte Ansätze. Der Aufstieg „rechtspopulistischer“ Parteien in einer Reihe von Euro-Ländern passt dagegen in dieses Szenario wie der Flug kreisender Geier.

 

Literatur:

Koblischke, Dagmar; Hochleitner, Erich: Wirtschaftliche Implikationen eines Türkei-Beitritts für die EU. In: Österreichisches Institut für Europäische Sicherheitspolitik (Hg.): Grenzenlose EU. Die Türkei und die Aushöhlung der Politischen Union. Wien Berlin Münster 2007, S. 155-166.

Krauss, Hartmut; Vogelpohl, Karin: Spätkapitalistische Gesellschaft und orthodoxer Islam. Zur Realität eines Desintegrationsverhältnisses jenseits von Verdrängung, Verschleierung und Bewältigungsromantik. In: Krauss, Hartmut (Hrsg.): Feindbild Islamkritik. Wenn die Grenzen zur Verzerrung und Diffamierung überschritten werden. Osnabrück 2010, S. 217-262.

Laquer, Walter: Die letzten Tage von Europa. Ein Kontinent verändert sein Gesicht. Berlin 2006. 2. Auflage.

(20. Juli 2011)

 

[1] http://www.focus.de/finanzen/news/dieter-zetsche-daimler-chef-will-tigerstaat-tuerkei-in-der-eu_aid_642561.html

[2] http://europenews.dk/de/node/43957

[3] Zur Problematik der kulturell-normativen Differenz orthodox-islamisch sozialisierter Zuwanderer gegenüber der spätkapitalistischen Aufnahmegesellschaft vgl. Krauss/Vogelpohl 2010.

 

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