Rebellion im Gotteszuchthaus – Zum offenen Ausbruch der Herrschaftskrise im staatsislamistisch vergesellschafteten Iran
Einleitung
Die blutige Unterdrückung der Massenproteste im Iran gegen die mutmaßlich manipulierte Präsidentschaftswahl vom 12. Juni 2009 reiht sich nahtlos ein in die sich immer wieder manifestierende Grundkonstitution der „Islamischen Republik Iran“, die einen totalitären, repressiv-terroristischen Gottesstaat schiitisch-islamistischer Prägung und Legitimierung darstellt. Der identitäre Leitsatz dieses staatsislamistischen Herrschaftssystems kommt in der folgenden Fatwa Khomeinis zum Ausdruck, die auch die Geisteshaltung der ‚Betonpredigt’ Khameneis vom Freitag, dem 19. Juni 2009 vorzeichnet: „Mitleid mit den Feinden des Islams ist Naivität. Die Entschlossenheit des Islams gegenüber den Feinden Gottes gehört zu den unverrückbaren Prinzipien der islamischen Ordnung. Ich hoffe, dass dies – begleitet vom revolutionären Zorn und Hass auf die Feinde des Islams – den Gefallen Gottes, des Erhabenen, findet“ (zit. n. Schirra 2006, S. 168). Damit setzt sich die totalitäre Herrschaft der von Gott designierten Rechtsgelehrten[1] als eine absolute und geheiligte Gewaltherrschaft gegenüber allen unbotmäßigen/ungehorsamen/unangepassten Kräften. Ihre göttlich bestimmte Aufgabe ist es, den individuell-menschlichen Drang nach Freiheit, Selbstbestimmung und Entfaltung mit allen Mitteln zu brechen und die Unterworfenen in die Bahnen der koranisch angewiesenen Gottesknechtschaft und Autoritätshörigkeit zurückzulenken. Ein Aufstand gegen die islamische (Selbst-)Herrschaft der religiösen Führer wird demzufolge als Aufstand gegen Gott angesehen.
In dem Maße, wie der traditionell-absolutistische Herrschaftsanspruch des Islam sich im Interesse des Selbsterhalts moderner technischer Mittel und Methoden bedienen muss und somit eine Synthese zwischen prämoderner Ideologie und instrumenteller Modernität vollzieht, eignet er sich den Charakter des Totalitären an: Die Religionspolizei kommt nicht mehr beritten sondern auf Motorrädern daher; sie setzt nicht nur Knüppel sondern auch Pfefferspray, moderne Schusswaffen und Elektroschockgeräte ein; die Twitter-Rebellen werden mit neuester Abhörtechnik des Nokia-Siemens-Networks bekämpft etc[2].
Trotz dieser totalitär-modernisierten islamischen Gewaltherrschaft haben sich in der iranischen Gesellschaft informelle Sektoren herausgebildet, in denen die islamisch zwangsnormierte Lebensführung tendenziell negiert wird und liberale Standards angeeignet und ausprobiert werden. Auch in diesem Fall spielen technisch-moderne Mittel eine entscheidende Rolle: Satelliten-Fernsehen, Handy, Internet. Darüber wird eine relativ dichte Kommunikation zur im westlichen Ausland lebenden Opposition aufgebaut und reproduziert. Träger dieser informellen und bis zur Präsidentschaftswahl prä-rebellischen Abwendung von islamistisch verordneter Lebensführung sind Frauen, Jugendliche, Studenten, Angehörige der städtischen Mittelschichten und Arbeiter, die sich gegen Lohndumping, Bespitzelung und für gewerkschaftliche Koalitionsfreiheit einsetzen. Mehr als zwei Drittel der iranischen Bevölkerung ist nicht älter als 30 Jahre und damit ohne jede biographische Bindung an die „Islamische Revolution“ – aber auch ohne eine systemimmanente Perspektive auf ein besseres Leben. Daraus resultiert eine wesentliche Triebfeder der Erosionskrise der Gottesdiktatur.
Vor diesem Hintergrund stellen sich nun folgende Fragen: Welches systemtransformatorische Potential kommt in der ausgebrochenen Legitimationskrise des Gottesstaates zum Vorschein? Handelt es sich bei den Demonstranten primär um systemimmanent Unzufriedene, die lediglich einen anderen, etwas gezügelteren Präsidenten und eine „weichere“ Diktatur haben wollen, aber ansonsten das staatsislamistische Herrschaftssystem nicht in Frage stellen? Oder handelt es sich bei einer großen Zahl von Aufbegehrenden um Menschen mit einer systemtransformatorischen Zielsetzung, die den Gottesstaat stürzen wollen, um ihre Persönlichkeit zu verwirklichen? Findet bei manchen Akteuren im Strom der Ereignisse eine Selbstveränderung statt (Zusammenfallen des Änderns der Verhältnisse und der Selbstveränderung)? Welche Auswirkungen hat die Massenrebellion auf die Strukturen und Perspektiven des herrschenden Blocks? Wie reagiert man von außen adäquat auf eine in Krisenturbulenzen geratene religiöse Diktatur, die nach Atomwaffen strebt? Welche Auswirkungen hätte eine befreiungsrevolutionäre Überwindung der Gottesdiktatur auf die islamische Herrschaftskultur insgesamt und darüber hinaus auf die weltpolitische Konstellation? Doch zunächst soll ein kritischer Blick auf die pseudorevolutionäre Selbstbeweihräucherung der „Islamischen Republik Iran“ geworfenen werden.
- Zur demagogischen Revolutionssemantik und zum realen „konterrevolutionären“ Wesen des islamistischen Gottesstaates
Symbolische Beraubung und begrifflich-propagandistische Irreführung sind ein Wesensmerkmal totalitärer Bewegungen: Obwohl sich die hitlerfaschistische Partei den Expansionsinteressen des deutschen Großkapitals andiente und von diesem massiv unterstützt wurde, also eine brutal-antidemokratische und prokapitalistische Linie verfolgte, bezeichnete sie sich zwecks Irreführung und Umgarnung der sozialdemokratisch und kommunistisch angehauchten Werktätigen als „nationalsozialistisch“. Auch der Stalinismus erwies sich entgegen seiner pseudo-marxistischen und pseudo-leninistischen Phraseologie als wirkungsmächtigste Form des Antikommunismus: „Daß im Namen des Kommunismus die Führung der Partei blanken Antikommunismus betrieb und längst in die Hände von Kriminellen und Konterrevolutionären übergegangen war, dies war für die sowjetische Öffentlichkeit und die kommunistische Weltbewegung deshalb kaum zu durchschauen, weil es eine von erklärten Kommunisten und ‚Marxisten-Leninisten’ geführte Konterrevolution unter dem Schutz der Roten Fahne war. Das klingt paradox; aber die Paradoxie löst sich auf, wenn man zwischen dem, wofür sich eine Parteiführung hält, und dem, was sie tut, genau unterscheidet“ (Schneider 1992, S. 219).
Ähnlich verhält es sich mit der Revolutionsrhetorik der islamistischen Herrschaftsträger im Iran, wenn zum Beispiel der oberste geistliche Repräsentant und Machthaber der Gottesdiktatur als „Revolutionsführer“ bezeichnet wird oder aber die nach innen gerichteten Militärkräfte als „Korps der Revolutionswächter“ tituliert werden.
Im Unterschied zu einem politischen Umsturz, bei dem zum Beispiel im Endeffekt nur ein Formwechsel der Diktatur vollzogen wird, handelt es sich bei einer im gesellschaftswissenschaftlichen Sinne ‚echten’ Revolution um eine durchgreifende gesamtgesellschaftliche Veränderung unter Beteiligung breiter Teile der Bevölkerung im Sinne einer fortschrittlichen Höherentwicklung sowohl auf sozialökonomischem, politischem und geistig-kulturellem Gebiet (gesteigerte Reichtumsproduktion und -verteilung/Erhöhung des durchschnittlichen Wohlstandsniveaus der Bevölkerung; verbesserte politische Partizipationsmöglichkeiten und Rechtsstellung der Bevölkerung bzw. der „gesellschaftlichen Individuen“; grundlegend verbesserte „Ausstattung“ der Gesellschaftsmitglieder mit säkular-wissenschaftlichen Bildungsinhalten in Form eines effektivierten Bildungs- und Erziehungssystems etc.). Gemessen an diesen Kriterien lassen sich die Umwälzungen im Prozess des Übergangs von ständischen Feudalgesellschaften zu modernen bürgerlich-kapitalistischen oder postfeudal-nichtkapitalistischen Gesellschaftsformen als „revolutionäre Höherbewegungen“ begreifen. (Beispiele: Englische Revolution; Französische Revolution; Novemberrevolution in Deutschland; Oktoberrevolution; chinesische Revolution[3]).
Der Sturz des Schah-Regimes als säkular-monarchistische Form der Diktatur basierte tatsächlich auf einer sozial ‚übergreifenden’, unterschiedliche Klassen und Bevölkerungssegmente umfassenden ‚Volkserhebung’. Allerdings war die gemeinsame Negation der Schah-Diktatur von Beginn an mit einem unaufhebbaren objektiven Gegensatz zwischen den interessenpolitisch unterschiedlichen Grundströmungen des Aufstands verbunden: Während die linken marxistisch-kommunistischen Gruppen sowie die bürgerlich-nationalistischen Kräfte auf jeweils spezifische (und durchaus ebenfalls zueinander widersprüchliche) Art eine Demokratisierung und Modernisierung der Gesellschaft anstrebten, ging es der islamistisch-khomeinistischen Richtung um die ‚perfekte’ Restauration einer gesamtgesellschaftlichen Hegemonie des Islam als allumfassendes Ordnungskonzept.
In der ersten Phase nach der Beseitigung der Schah-Diktatur herrschte zunächst noch ein Machtvakuum bzw. eine kräftepolitische Diffusion, in der linke und bürgerlich-demokratische Kräfte über eine gewisse Bewegungs- und Betätigungsfreiheit in den Betrieben, an den Universitäten und in der politischen Öffentlichkeit verfügten und der interessenpolitisch-ideologisch Grundwiderspruch der Anti-Schah-Bewegung noch nicht offen ausbrach. Die Vormachtstellung der islamistischen Abteilung und ihr neototalitärer Anspruch hatten sich noch nicht hinreichend etabliert. „It was a period of relative open political activity, which the state was incapable of suppressing on a widespread scale, despite the existence of thugs and Islamicism … Political parties were flourishing; books of Marx and Lenin were sold everywhere; Communist organisations published papers; labour councils were established; various women’s organisations were formed and the wave of protests continued to escalate, until an Islamic counter-revolutionary coup d’état took place on 20 June 1981 (30 Khordad 1360). They attacked and executed 300 to 500 people a day in Evin prison and all over the country; they closed down newspapers and crushed the opposition. This was what enabled the Islamic Republic to exist today. The point of the Islamic Republic’s establishment was 20 June 1981 (30 Khordad), not 11 February 1979 (22 Bahman)“ (Hekmat 2000). Demnach war die „Islamische Republik“ nicht das unmittelbare Produkt der Überwindung des Schah-Regimes, sondern das Resultat eines „konterrevolutionären“ Staatsstreichs innerhalb des Ringens um Hegemonie zwischen den Hauptsegmenten der Umsturzbewegung, in dessen Folge eine säkular-monarchistische Diktatur in eine religiöse Diktatur überführt wurde: An die Stelle des monarchischen Despoten und seines Unterdrückungsapparates trat nun der oberste Religionsgelehrte als Gott-König mit einer neu geschaffenen institutionellen Repressionsmaschinerie. Dabei zeigte sich sogleich eine elementare Kontinuität: „The Islamic government’s execution list was basically taken from the list of those who had been imprisoned during the Monarchy. A person who had been sentenced to two-month’s imprisonment by the Shah’s government was executed by the Islamic regime. They attacked and killed the very same people the Shah’s regime wanted to but couldn’t“ (ebenda)[4]. Insgesamt betrachtet erwies sich die islamistische Machteroberung als weithin unterschätztes blutig-grausames Ereignis, das sich nahtlos in die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts einreiht. Nach Ansicht von Mansoor Hekmat war sie „one of the greatest crimes of the 20th Century, comparable to Nazi Germany, the genocide in Indonesia and Rwanda, and much more brutal than what took place in Chile. It is one of the most important catastrophes and human tragedies of the 20th Century. They attacked, suppressed, killed and buried in unmarked graves, innumerable people. They massacred many of the best, the most passionate and progressive people in order to remain in power“ (ebenda).
Wie konnte nun aber das islamistisch-khomeinistische Lager hegemonial werden und seine totalitären Herrschaftsambitionen in die Tat umsetzten? Dabei spielten insbesondere folgende Aspekte eine zentrale Rolle:
Zum einen überlagerte zunächst der akute ‚Hauptgegensatz’ zwischen dem herrschenden Schahregime und den verschiedenen Lagern der Opposition die zwischen diesen bestehenden, zunächst noch latent bleibenden Interessenwidersprüche und politisch-ideologischen Antagonismen (islamistisch-antiwestlich; säkular-nationalistisch; sozialistisch-antiimpe-rialistisch).
Zweitens verfügte das islamistische Lager aufgrund einer tiefergehenden kulturhistorischen Verankerung traditionell-islamischer Einstellungen und Habitusformen über eine viel breitere Mobilisierungsbasis und Gefolgschaftstreue innerhalb der Bevölkerung als das säkulare linke und bürgerliche Lager.
Drittens führten ideologisches Scheuklappendenken und strategische Defizite auf Seiten der nichtislamistischen Oppositionskräfte zu gravierenden Fehleinschätzungen bezüglich der reaktionären Konstitution des islamistischen Lagers[5]. Hinzu kam die Virulenz von islamistischen Konzepten, die ihre reaktionär-religiöse Grundausrichtung und Verteidigung der prämodernen islamischen Herrschaftskultur vermittels entstellter westlicher Begriffe und Ideen vortrugen und so die irreführende Aura des ‚Intellektuell-Revolutionären’ erwarben[6].
Viertens zeichnete sich die khomeinistische Mobilisierungsideologie durch ein hohes Maß an Elastizität und hegemonialer Kapazität aus, die es zum einen erlaubten, in der entscheidenden Phase des Umsturzes die Einheit der Oppositionskräfte zu wahren und zum anderen in der darauf folgenden Etappe die Ausschaltung der oppositionellen Konkurrenten zu gewährleisten.
- Zur totalitären Konstitution des staatsislamistischen Herrschaftssystems
II.1 Die khomeinistische Leitideologie
Die repressiv-terroristische Ausschaltung der säkularen Oppositionskräfte bildete die unabdingbare Voraussetzung für die Ersetzung der Schah-Diktatur durch die totalitäre ‚Gottesdiktatur’ der schiitisch-islamischen Religionsgelehrten. Als Leitkonzept dieser Transformation und funktionale Herrschaftsideologie diente und dient die radikale Zuspitzung der orthodoxen schiitisch-islamischen Glaubenslehre durch Khomeini. Danach ist der Islam die letztgültige Glaubenslehre und Weltanschauung, die im Sinne einer göttlich vorherbestimmten Geschichtsteleologie gesetzmäßig zur weltherrschaftlichen Vollendung gelangt. Von dieser Grundposition aus wird dann sowohl die traditionell-christliche als auch insbesondere die säkular-humanistische Kultur des Westens im Sinne einer geschlossenen Verschwörungsideologie konsequent verteufelt und damit ein perfekter Abwehrmechanismus gegenüber den eigenen herrschaftskulturellen Defekten, Widersprüchen, Entwicklungsbehinderungen, Krisen etc. geschaffen. Alle Probleme erscheinen demnach als eine Verunreinigung durch westlich-säkulare Einflüsse, die es kämpferisch (djihadistisch) abzuwehren und zu überwinden gilt. Als zentrale westliche Vergiftung werden das kritisch-rationale Denken und die daraus hervorgehenden emanzipatorischen Handlungsimpulse fokussiert.
Um nun zu einer eingreifenden Praxis im Sinne der Herstellung einer gottesherrschaftlichen Gesellschaftsordnung zu gelangen und damit auch die kontaminierenden Einflüsse des Westens radikal ausmerzen zu können, nimmt Khomeini eine grundlegende Revision innerhalb der klassischen schiitischen Herrschaftslehre vor. Nach dieser traditionellen Auffassung sind die religiösen Rechtsgelehrten während der Entrückungszeit des Zwölften Imams dazu angehalten, den weltlichen Herrscher bei der Einhaltung der schariatischen Ordnung zu unterstützen bzw. dessen Regierungstätigkeit im Hinblick auf deren Scharia-Konformität zu kontrollieren. Demgegenüber plädiert nun Khomeini angesichts der ‚absoluten Gottlosigkeit’ der Schah-Herrschaft für die Ersetzung dieser indirekten Wächterfunktion durch die unmittelbar-aktive Herrschaftsausübung der religiösen Rechtsgelehrten als legitimierte Sachwalter des Verborgenen Imam. Dieses Konzept der „Regierung der Rechtsgelehrten“ (wilayat al-faqih[7]) besagt nach Khomeini,
„dass die Rechtsgelehrten verpflichtet sind, gemeinsam oder einzeln zum Zweck der Vollstreckung der koranischen Strafgesetze (hudud) und des Schutzes der Grenzen und der Ordnung des Islam eine religiöse Regierung zu bilden. … denn die Rechtgelehrten sind von Gott designiert“ (zit. n. Meier 1994, S. 335).
Durch diese Neuinterpretation der Rolle der Rechtsgelehrten wurde gleichzeitig der dem Modernisierungsprozess innewohnenden tendenziellen Marginalisierung bzw. dem Bedeutungsverlust der Islamgelehrtheit eine extrem offensive Antwort erteilt. Damit erscheint Khomeini als paradigmatische Verkörperung des Umschlags des konservativ-orthodoxen Gesetzesislam in die aktivistisch radikalisierte Form des Islamismus.
Der globale Weltherrschaftsanspruch der „islamischen Revolution“ richtet sich bei Khomeini gegen alle Formen entgegenstehender Gesellschaftsstrukturen, Kulturen und Religionen, d. h. gegen westlich-säkularen Kapitalismus und atheistischen Sozialismus, gegen Christentum und Judentum, insbesondere aber gegen alle Erscheinungsformen der kulturellen Moderne und nichtmuslimischer Ungläubigkeit. Die Tötung von Ungläubigen ist für ihn nichts weiter als göttliche Pflicht auf diesem Wege zur Errichtung der islamischen Weltherrschaft, wobei er sich leider durchaus zu Recht auf die islamische Offenbarung beziehen kann:
„Jene, die dem Koran folgen, wissen, dass wir die Quissas (Strafgesetze) anwenden und töten müssen. Die Kriege, die unser Prophet, Friede seiner Seele, gegen die Ungläubigen führte, waren ein Geschenk Gottes an die Menschheit. Wir müssen auf der ganzen Welt Krieg führen, bis alle Verderbnis, aller Ungehorsam gegenüber dem islamischen Gesetz aufhören. Eine Religion ohne Krieg ist eine verkrüppelte Religion. Es ist Krieg, der die Erde läutert“ (ebenda S. 154f.)[8].
Aus dem Geist dieser hegemonial gewordenen Islamauslegung heraus wurde die Islamische Republik Iran als totalitäres staatsislamistisches Herrschaftssystem mit entsprechenden Repressionsapparaten, sittenterroristischen Verbänden, einer barbarischen Strafjustiz sowie einer schariatischen Gleichschaltungsideologie geschaffen. Khomeini nahm in diesem System in „guter“ persischer Tradition den Platz eines totalitären Gott-Königs ein; der willkürlich neue Regeln aufstellen und nach religiösem Belieben zivilisatorische Tabus brechen durfte.
Nach der Verfassung des Gottesstaates ist die islamische Republik ein System, „das auf folgenden Glaubenssätzen basiert: Dem einen und einzigen Gott; seiner exklusiven Souveränität und Gesetzgebung; der Notwendigkeit sich seinem Befehl zu unterwerfen, die göttliche Offenbarung und ihre grundsätzliche Rolle in der Verabschiedung von Gesetzen; das Konzept der Auferstehung und seine konstruktive Rolle im Evolutionsweg des Menschen zu Gott; die Gerechtigkeit Gottes in der Schöpfung und im Gesetzgeben. Das ununterbrochene Imamat, seine Führerschaft und seine fundamentale Rolle in der islamischen (nicht allein iranischen) Revolution“ (Trimondi und Trimondi 2006, S. 359f.)
II.2 Politische Kerninstanzen des islamistischen Herrschaftssystems
Um die „Gottessouveränität“ bzw. die absolute Herrschaft der göttlichen Gesetze in konkrete gesellschaftliche Unterwerfungs- und Überwachungspraxis zu überführen, wird ein totalitäres System politischer Führungs- und Lenkungsorgane geschaffen, durch deren Tätigkeit sich die Diktatur der Religionsgelehrten realisiert. In diesem Funktionskomplex lassen sich folgende Kerninstanzen identifizieren:
1) Die höchste Autorität im System der Gottesdiktatur besitzt der auf Lebenszeit eingesetzte „Oberste geistliche Führer“ (Rahbar). Als Stellvertreter des entrückten Imam Muhammed al-Mahdi[9] verfügt er bis zu dessen Wiederkunft über uneingeschränkte Macht, bestimmt die Richtlinien der Politik, ist Oberkommandierender der Streitkräfte und der „Revolutionsgarden“ und ernennt die höchsten Richter (allesamt Geistliche). Zudem ernennt er sechs Mitglieder des Wächterrats. Die gesamte Rechtsprechung, Exekutive und Legislative steht unter der permanenten Aufsicht des religiösen Führers, der de facto die Rolle eines göttlich legitimierten absoluten Monarchen einnimmt. Vom 3. Dezember 1979 bis zum 3. Juni 1989 hatte der charismatische „Revolutionsführer“ Ruhollah Mousavi Khomeini das Amt inne; ab dem 4. Juni bis heute Ali Khamenei, der zuvor Staatspräsident war. Da ihm das Charisma und die hohe religiöse Bildung Khomeinis fehlt, liegt hier ein latenter Konfliktherd zwischen ihm und den übrigen Mitgliedern der Herrschaftsklasse der Geistlichen, die eine kollektive statt einer personellen Ausübung der obersten geistlichen Führerschaft bevorzugen.
2) Gewählt wird der „Religionsführer“ durch den „Expertenrat“, einem aus 86 Mitgliedern bestehendem Gremium, das alle acht Jahre vom Volk gewählt wird. Alle Kandidaten sind allerdings zuvor vom „Wächterrat“ gesiebt und erst dann zur Wahl freigegeben worden. Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass der „Wächterrat“ wiederum zur Hälfte vom Obersten Religionsführer ernannt wird und somit der Religionsführer die Hälfte derjenigen bestimmt, die ihrerseits diejenigen selektieren, die für den „Expertenrat“ kandidieren dürfen, der dann den Religionsführer wählt. Somit ist ein geschlossenes (Kontroll-)System der Besetzung von Herrschaftspositionen gewährleistet.
3) Eine wesentliche Rolle spielt der „Wächterrat“, der aus sechs weltlichen Juristen und sechs religiösen Rechtsgelehrten besteht, wobei die Letztgenannten – wie gerade angemerkt – vom Religionsführer ernannt werden. Die Hauptaufgaben des „Wächterrats“ bestehen zum einen darin, die vom Parlament erlassenen Gesetze bzw. schon die Gesetzesvorlagen auf ihre Vereinbarkeit mit dem islamischen Recht zu überprüfen und ggf. zu annullieren sowie zum anderen darin, die Kandidaten für die Wahl zum Parlament und für die Wahl zum Präsidentenamt auf ihre islamische „Zuverlässigkeit“ zu überprüfen und auszulesen.
4) Die Auswahl durch den Wächterrat stellt sicher, dass die in allgemeinen, direkten und geheimen Wahlen für vier Jahre gewählten 290 Abgeordneten[10] des iranischen „Parlaments“ (islamischer Konsultativrat) im Sinne der islamischen Prinzipien handeln. Hinzu kommt dann noch die Überwachung der Gesetzesinhalte. Nach dem „Wächterrat“ dürfen sich auch das Staatsministerium, das Exekutivkomitee für die Wahlen sowie die Beobachterkommission für die Wahlen einmischen. „Da die Kandidaten nicht von der Bevölkerung aufgestellt werden, sondern von staatlichen Organen ‚qualifizierte’, also diktierte Kandidaten sind, wird die Bevölkerung gezwungen, einer der Diktatur eigenen Logik bei Wahlen zu folgen“ (Wahdat-Hagh 2003, S. 269.). D. h: Die „Wahlen“ dienen im Grunde nur der formalen Scheinlegitimierung des islamistischen Herrschaftssystems.
5) Um mögliche Disbalancen zwischen dem Parlament (als Vertreter nationaler und gesellschaftlicher Interessen) und dem Wächterrat (als übergeordneter Vertreter islamischer Prinzipien) abzufangen und im Interesse der Systemstabilität einzudämmen, wurde als zusätzliches Organ der „Schlichtungsrat“ gegründet, der sich aus insgesamt 35 festen (darunter die klerikalen Mitglieder des Wächterrates) und variablen Mitgliedern zusammensetzt, die vom Religionsführer ernannt werden.
6) Auch die Wahlen zum Amt des „Staatspräsidenten“ sind im Grunde eine Farce, da – wie bei der letzten und jetzt so heiß umstrittenen Wahl – von über 400 Bewerbern nur vier zugelassen wurden[11]. Dass es trotz dieser regimefunktionalen Selektion dennoch zu Manipulationen bei der Stimmenauszählung kam, zeigt zum einen die tiefen Risse zwischen einzelnen Abteilungen und Fraktionen der staatsislamistischen Herrschaftsträger. Zum anderen zeugt die hohe emotionale „Aufladung“ der diktierten Auswahlmöglichkeiten zwischen ausgesuchten Vertretern des Regimes, die sich nur graduell von einander unterscheiden, von einem enorm angestauten Potenzial an sozialer und politischer Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung. Dabei ist der für vier Jahre gewählte Staatspräsident im Grunde nur der „Laufbursche“ des Religionsführers, der dessen politische Absichten ohne wenn und aber ausführen muss und auf Gedeih und Verderb von dessen Rückendeckung abhängig ist.
II.3 Organe des staatsislamistischen Repressionsapparats
Die politischen Kerninstanzen der staatsislamistischen Diktatur stützen sich auf einen komplexen Apparat von Repressions-, Kontroll- und Sanktionsorganen, die dem Ziel der Sicherung des islamistischen Herrschaftssystems nach innen und außen dienen und zudem die Aufgabe haben, islamistische Kräfte im Ausland anzuleiten und operativ zu unterstützen. U. a. sind hier folgende Institutionen zu nennen:
1) Die unmittelbar militärischen bzw. bewaffneten Repressionsorgane. Dazu zählen a) die reguläre Armee, welche die Unabhängigkeit und die nationalen Grenzen des Landes verteidigen soll sowie b) die als besonders regimetreu geltenden Korps der „Revolutionswächter der islamischen Revolution“ oder „Revolutionsgarden“ (Pasdaran). Ihre Aufgabe ist der Schutz der islamistischen Diktatur gegen alle aktuellen und potentielle Feinde (Gesamtheit derer, die sich der islamistischen Diktatur nicht unterwerfen wollen) sowie die einschüchternde Präsenz und Kontrolle der Bevölkerung im Sinne des sittendiktatorischen Grundimperativs des Islam, das Rechte zu gebieten und das Unrechte zu verbieten (Koran, Sure 3, Verse 104, 110 und 114). Nach Schätzungen von Forschungseinrichtungen beträgt die Zahl der Pasdaran ca. 125.000 Personen. Als dritte Säule sind c) die paramilitärischen Bassiji-Einheitenanzuführen, die von den Pasdaran kontrolliert werden und wie diese die inneren und äußeren Feinde der Gottesdiktatur bekämpfen sollen. Die ca. 200.000 Mitglieder dieser islamistischen Volksmiliz bilden ein über dass ganze Land verzweigtes Netzwerk von „Widerstandszellen“, das in allen Dörfern und Städten des Landes im Sinne eines zugleich ideologischen Überwachungs- und militärischen Unterdrückungssystems den Schrecken Allahs verbreitet.
2) Die ideologischen Bespitzelungs- und Geheimdienstorgane. Dazu zählen die „Komitees der islamischen Revolution“, die beim Kampf gegen abweichendes/unislamisches Verhalten mit der städtischen Polizei und der Gendarmerie zusammenarbeiten, sowie der „Sicherheitsrat des Staates“, die beide als Abteilungen des Staatsministeriums geführt werden. Das „Ministerium für Information und Sicherheit“ (MOIS), das u. a. für Spionageabwehr, Kontrolle des Reiseverkehrs, Auslandsaufklärung und Anschlagsvorbereitung im Ausland zuständig ist, besitzt 15 Abteilungen, die zum Teil auf die Bekämpfung besonderer Feinde (linke Gruppen, Mojahedin) oder auf die Zusammenarbeit mit „gelenkten“ Organisationen wie Hamas und Hisbollah spezialisiert sind. Agenten des MOIS wird auch die Ermordung regimekritischer Schriftsteller und Politiker angelastet. Die Revolutionsgarden unterhalten darüber hinaus einen eigenen Nachrichtendienst, der sich „QODS-Streitkräfte“ (Heilige) nennt und eng mit dem MOIS zusammenarbeitet. Neben der Bekämpfung von rebellischen Minderheiten im Inneren, wie zum Beispiel den Kurden, widmen sich die „Heiligen“ insbesondere dem Export des iranischen Staatsislamismus und unterhalten militärische Trainingscamps zur Ausbildung von Terroristen im Sudan und im Libanon. Ihnen werden auch „die Bombenanschläge auf die israelische Botschaft in Argentinien 1992 sowie auf das Zentrum der jüdischen Gemeinde in Buenos Aires 1994 angelastet, bei denen 64 Menschen ums Leben gekommen sind“ (Wahdat-Hagh 2003, S. 311).
3) Die ideologischen Zensur- und Gleichschaltungsorgane.
Neben den Ministerien für Bildung und Erziehung und für Kultur und höhere Bildung ist hier vor allem das Ministerium für Kultur und Islamische Führung (Bekehrung)anzuführen, dass insbesondere gemäß dem genannten islamischen Herrschaftsprinzip, das Rechte zu gebieten und das Unrechte zu verbieten, als religiöse Zensurbehörde fungiert. Zu seinen Hauptaufgaben zählt die Förderung des „Wachstums der sittlichen Tugenden“ im Sinne der diktierten Zwangsmoral des Gottesstaates, der Schutz der Gesellschaft vor „unislamischen Einflüssen“ bzw. Abwehr der kulturellen Moderne sowie die Forcierung islamischer Propaganda im In- und Ausland. In diesem Kontext ist auch die unter der Präsidentschaft Ahmadinedschads gesteigerte antijüdische Hetzpropaganda, die Durchführung einer Konferenz von Holocaust-Leugnern in Teheran sowie Ahmadinedschads Auftritt auf der Konferenz des UNO-Menschenrechtsrates im April 2009 zu sehen.
II.4 Die Scharia und der Justizapparat
Die „konterrevolutionäre“ Wiedereinführung des islamischen Rechts ist der Brennpunkt des Übergangs von der Schah-Diktatur zur staatsislamistischen Diktatur und bildet die Grundlage für den totalitären Aufbau des Gottesstaates. Im Zentrum der staatsislamistischen Systemtätigkeit steht folglich die rigorose Anwendung des islamischen Rechts (Scharia), wie es als absolut gültiges Normengefüge aus der koranischen Offenbarung und der Sunna des Propheten von den herrschenden Religionsgelehrten abgeleitet und repressiv-terroristisch überwacht und durchgesetzt wird. Dabei ist im iranischen Gottesstaat die dschaf’aritische Rechtsschule der „Zwölferschiiten“[12] maßgeblich. Nach dieser gültigen Rechtsauffassung sieht der iranische Strafrechtskatalog zum Beispiel für wiederholten unerlaubten Geschlechtsverkehr die Todesstrafe durch Steinigung vor. Je nach Geständnislage ist festgelegt, ob zunächst der religiöse Richter oder die Zeugen die ersten Steine werfen. Selbst die Größe der Steine ist festgelegt. Für Homosexualität „in der Form des Verkehrs“ ist die Todesstrafe vorgesehen, wobei die Tötungsart im Ermessen des religiösen Richters liegt. Als Strafe für das Trinken berauschender Getränke sind für Frauen und Männer 80 Peitschenhiebe vorgesehen. Bei wiederholter Rückfälligkeit droht auch hier die Todesstrafe. Oppositionelle, die sich gegen die islamistische Diktatur wenden, werden als „Kämpfer gegen Gott und Verderbensstifter auf Erden“ klassifiziert. Die Strafe für den Kampf gegen Gott und das irdische Verderbensstiften ist eine der vier folgenden: Tötung; Kreuzigung; Abschneiden zuerst der rechten Hand und dann des linken Fußes; Verbannung. Als „politische Verbrechen“ werden alle kritischen Äußerungen und Bekundungen angesehen, die sich gegen die herrschende Staatsführung richten und zur „Desorganisation der „gedanklichen Sicherheit der Gesellschaft“ führen können. Bei Abkehr und Nichtanerkennung bzw. Distanzierung vom Islam – also Abfall vom ‚rechten Glauben’ – droht Hinrichtung oder eine lange Gefängnisstrafe. So ist ein männlicher Abtrünniger zum Tode zu verurteilen, wenn er nicht widerruft, eine weibliche Abtrünnige hingegen soll so lange gefangen gehalten werden, bis sie widerruft. Dabei wird nach einer neuen iranischen Gesetzvorlage, die am 9. September vom iranischen Parlament mit großer Mehrheit gebilligt wurde, unerwünschte Neuerung, also Reform, als Ketzerei ausgelegt und unter den Glaubensabfallparagraphen subsumiert. Wer als Geistlicher für die Trennung von Staat und Religion plädiert und die Menschenrechte verteidigt, wird als Apostat behandelt. Für Beleidigung der Staatsbeamten der Gottesdiktatur sind bis zu vierundsiebzig Peitschenhiebe vorgesehen. Mit ebenso vielen Peitschenhieben müssen Frauen rechnen, die sich ohne die religionsgesetzlich vorgeschriebene Kleidung auf öffentlichen Straßen und Plätzen zeigen[13]. Im Einklang mit der Scharia gelten Jungen mit 15 Jahren und Mädchen mit neun Jahren als volljährig und damit voll straffähig. Dementsprechend weist der Iran weltweit nicht nur die höchste Rate an Hinrichtungen im Verhältnis zur Bevölkerung auf. Zudem werden im Iran weltweit am meisten Jugendliche bzw. Menschen hingerichtet, die zum Zeitpunkt der ihnen vorgeworfenen Tat noch nicht volljährig waren, wie zum Beispiel 2007 zwei homosexuelle Teenager. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen ist davon auszugehen, dass gegenwärtig ca. 130 minderjährig zu Tode Verurteilte in den Gefängnissen des Gottesstaates auf ihre Hinrichtung warten.
Auf der Basis dieses zutiefst menschenrechtswidrigen islamischen Rechtssystems wird dann der beschriebene Unterdrückungsapparat eingesetzt, wie er sich aus solchen Teilsystemen wie der Religionspolizei, bewaffneten Sittenwächtern sowie Sicherheits- und Nachrichtendiensten zusammensetzt, die man verniedlichend als „Mullah-Stasi“ oder aber besser und genauer als Islam-Gestapo bezeichnen könnte. Die Liste von unislamischen Verhaltensweisen, auf die dieser sittenterroristische Apparat mit Verhaftung und Gewaltandrohung und Gewaltanwendung (Auspeitschen) reagiert, ist lang: Offener Kontakt von unverheirateten Männern und Frauen, unmoralische Kleidung, Popmusik und Tanzvergnügen, Besuch von Partys. Schon unter dem angeblichen Reformer Khatami war zu lesen, wie die Sittenwächter agieren: Bei leichten Auspeitschungen klemmen sie sich den Koran unter die Achsel, bei größeren Vergehen wie etwa bei Fehlen des Jungfernhäutchens schlagen sie mit dem ausgestreckten Arm.
- 5 Der soziale Antagonismus der Gottesdiktatur
Von besonderer Bedeutung ist auch, dass die iranische Gottesdiktatur auf einem brutalen System der Ausbeutung und Entrechtung der arbeitenden Bevölkerung basiert, deren soziale Lebenslage in Vielem an die Zustände im frühen europäischen Industriekapitalismus erinnert. D. h. dass in das religiöse Sittenzuchthaus ein Arbeitszuchthaus integriert ist. So lässt die islamistische Diktatur weder die Bildung unabhängiger Gewerkschaften zu noch räumt sie den Werktätigen ein Streikrecht ein. Die Regierung legt willkürlich die Löhne und Gehälter fest und ist zudem der größte Arbeitgeber des Landes mit 40 % der Arbeitnehmerschaft. Die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten ist von allen arbeitsrechtlichen Bestimmungen ausgeschlossen. Dabei ist es gängige Praxis, Beschäftigte einen Tag vor ihrer dreimonatigen Probezeit zu entlassen, damit sie keinen Anspruch auf Zusatzleistungen und Entlassungsabfindungen haben. In zahlreichen Betrieben sind die nachrichtendienstlichen Spitzel des Regimes als Überwachungs- und Einschüchterungskommandos präsent. Nach Angaben aus 2008 liegt der festgelegte Mindestlohn bei 140 US-Dollar monatlich; de facto sind aber zwei Millionen Beschäftigte nicht bezahlt worden – darunter einige seit zwei Jahren nicht. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 15%, dürfte aber tatsächlich bei über 30% liegen.
Angesichts dieser Bedingungen kam es auch schon vor den großen Unruhen anlässlich der manipulierten Präsidentschaftswahlen trotz Streikverbots und der repressiven Präsenz des Gottesstaates immer wieder zu Arbeiterprotesten, spontanen Streikaktionen und Arbeitsniederlegungen, die zumeist gewaltsam unterdrückt wurden. Die beteiligten Arbeiteraktivisten oder auch Lehrergewerkschafter werden von den Sicherheitsorganen und Schergen des Systems routinemäßig verprügelt, verhaftet, eingeschüchtert, als gotteslästerliche Verräter stigmatisiert und in einigen Fällen auch ermordet. Bei Kundgebungen wie zum Beispiel 1.Mai-Demonstrationen werden die Teilnehmer von den islamistischen Unterdrückungsorganen gewaltsam angegriffen und ohne Anklage inhaftiert, um daraufhin in vielen Fällen einer Prügelstrafe unterzogen zu werden. Nachdem zum Beispiel der Transportarbeiterführer Mansour Osanloo mit seinen Kollegen das öffentliche Verkehrsnetz zum Stillstand gebracht hatte, um gegen eine neue Repressionsmaßnahme des Regimes zu protestieren, der zufolge weibliche Passagiere im hinteren Teil von Bussen sitzen müssen, wurde er festgenommen, mehrfach verprügelt und inhaftiert. Am 30. Oktober 2008 wurde seine fünfjährige Haftstrafe bestätigt: vier Jahre für Gefährdung der Staatssicherheit und ein Jahr für Propaganda gegen das staatsislamistische Regime[14].
Die brutale Entrechtung, Ausbeutung und sittenterroristische Reglementierung der Bevölkerungsmasse im Namen des Islam findet ihren antagonistischen Gegensatz in der politischen Allmacht, ideologischen Deutungshoheit und Reichtumsanhäufung der islamistischen Herrschaftsträger. Das gilt insbesondere für die Spitzenvertreter der staatsislamistischen Oligarchie, die gestützt auf ihre privilegierte Machtstellung ein enormes Geldkapital angehäuft haben, das auf Bankkonten in Deutschland, der Schweiz und England liegt[15]. Das gilt nicht nur für den Rafsandschani-Clan, der – ausgehend von einem Monopol auf Pistazien-Exporte – über ein riesiges Firmenimperium verfügt. „Weniger bekannt ist der Reichtum des Chamenei-Clans – und die wirtschaftliche Rivalität zwischen den beiden Mullahs. Chameneis Sohn Mojtaba musste gerade erleben, dass ihm fast 1,7 Mrd. Dollar an Vermögen in London eingefroren wurden im Rahmen der Uno-Sanktionen gegen Iran. Seither hegt Mojtaba nicht nur Hass gegen England, sondern gilt auch als einer der entschlossensten Gegner der grünen Welle der Veränderung in Iran. Gleichzeitig wirft er den Briten vor, die Umstürzler in Teheran aus der Ferne zu steuern.“[16] Ahmadinedschad wiederum ist der Gewährsmann der neureichen Pfründewirtschaftler aus den Reihen der Revolutionsgarden, die sich neben dem herrschenden Klerus ein eigenes Korruptionsnetzwerk und Geschäftsimperium aufgebaut haben, das wiederum von der frommen Clique der Religionsgelehrten von Ghom[17] argwöhnisch betrachtet wird.
III. Zum Charakter der ausgebrochenen Krise des staatsislamistischen Herrschaftssystems
In seiner Aufsehen erregenden Freitagspredigt am 18. Juli 2009 hatte der frühere Präsident, amtierende Vorsitzende des Expertenrats und reichste Mann des Iran, Ayatollah Rafsandschani, selbst erklärt, dass der Iran in einer Krise stecke und gleichzeitig Kritik an der Regierung seines ehemaligen Rivalen Ahmadinedschad geübt sowie Verständnis für die Opposition geäußert. Dieser Auftritt reichte bereits aus, um die zunächst blutig zurückgeschlagene Protestbewegung wieder in Massen auf die Straße zu bringen. Es handelt sich also offenkundig um mehr als um eine rasch vorüber gehende spontane Unmutsbewegung, die sich durch kurzfristige brutale Repression leicht eindämmen lässt.
Was bedeutet es aber, wenn ein herausragender Exponent des staatsislamistischen Herrschaftssystems eine Krise eingesteht und zugleich der Oppositionsbewegung schmeichelt? Zum einen zeugt dieser Auftritt von einem nachhaltigen Interessenkonflikt zwischen Spitzenvertretern des Regimes und den hinter ihnen stehenden Herrschaftsfraktionen. Zum anderen ist Rafsandschanis Bemühen zu erkennen, die Oppositionsbewegung in den Grenzen des Systems zu halten, bei aller herrschaftsinternen Zwistigkeit das staatsislamistische Regime zu erhalten und gleichzeitig die Oppositionsbewegung als Stärkungsmittel für die eigene Position im internen Machtkampf zu instrumentalisieren. Sich an die Spitze von Aufstandsbewegungen zu stellen, um ihnen die weiter und tiefer gehende Stoßrichtung zu nehmen, gehört ebenso zum herkömmlichen Geschäft nichtrevolutionärer Kräfte in potentiellen und akuten Umbruchsituationen wie die Nutzung der Straße für Interessenpolitik im Herrschaftssalon.
De facto hat sich aber hinter dem von der Regierung Ahmadinedschad aufgehängten Rauchvorhang aus martialischer Hetze gegen Israel, provokanten Auftritten im Atomstreit und Anfeuern der islamistischen Kräfte im Libanon, in Gazastreifen und im Irak eine schwere sozialökonomische Krise herausgebildet, die teilweise auch auf die ausländischen Wirtschaftssanktionen zurückzuführen ist. So schrumpft der Außenhandel, während ausländische Investitionen zurückgehen, ein starker Preisanstieg zu verzeichnen ist (Inflationsrate von ca. 30%) und die ohnehin schon hohe Arbeitslosigkeit noch weiter um sich greift. „Eine vierköpfige Familie, die den Mindestlohn von etwa 215 $ im Monat verdient, muss beinahe 80% der Einnahmen für Nahrungsmittel ausgeben. Der iranischen Zeitung Etemad zufolge haben sich die Nahrungsmittelausgaben einer solchen Familie im vergangenen Jahr von 90 auf 188 $ pro Monat verdoppelt.“[18] Trotz der hohen Arbeitslosigkeit sind Kinderarbeit und der Einsatz sowie die repressive Behandlung von Billiglohnarbeitern (vor allem aus Afghanistan[19]) im Gottesstaat sehr verbreitet. Hinzu kommt eine gravierende Lohndiskriminierung der Frauen, die im Durchschnitt nur 30% des männlichen Durchschnittseinkommens erhalten.
Obwohl der Iran den vierten Platz in der weltweiten Ölförderung einnimmt und über die drittgrößten Erdölreserven verfügt, muss das Land wegen unzureichender Raffineriekapazitäten große Mengen Benzin importieren und dafür jährlich mehrere Milliarden US-Dollar bezahlen. Da zudem die Benzinpreise staatlich subventioniert werden müssen, um soziale Unruhen zu vermeiden, liegt hier ein weiterer Destabilisierungsherd.
Insgesamt betrachtet haben wir es demnach mit einer mehrdimensionalen objektiven Krisenrealität und umfassenden subjektiven Krisenbetroffenheit zu tun, die sich aus folgenden Wirklichkeits- und Erlebnisebenen zu einer gesamtgesellschaftlichen Krise/Krisenerfahrung ‚verdichtet’ hat:
1) an die Existenz gehende sozialökonomische Krisenprozesse,
2) anhaltende und zum Teil noch verschärfte politische Unterdrückung sowie
3) die Repression durch ein religiös diktiertes mittelalterliches Keuschheits- und Vormundschaftsregime.
Diese Konstellation hat in summa eine latent explosive Stimmungslage in breiten Teilen der städtischen und zum Teil wohl auch der ländlichen Bevölkerung hervorgerufen, die nun angesichts der manipulierten Präsidentschaftswahl offen zum Ausbruch gelangt ist: „Where is my vote?“ Und „Tod der Diktatur!“ Die erste Losung/Frage ließe sich noch systemimmanent aufarbeiten. Die zweite Losung zielt allerdings auf die Transformation des Systems.
Exkurs über Revolutionstheorie
An dieser Stelle ist nun ein knapper Exkurs über Revolutionstheorie unumgänglich:
Im Anschluss an Lenin ist zwischen den objektiven Merkmalen einer revolutionären Situation einerseits und bestimmten subjektiven Voraussetzungen andererseits zu unterscheiden, wobei erst durch das Vorhandensein der letzteren aus einer objektiv gegebenen revolutionären Situation tatsächlich ein realer revolutionärer Prozess resultiert. Objektive Grundvoraussetzung einer revolutionären Situation ist die Herausbildung einer gesamtnationalen Krise die sowohl die herrschende Klasse als auch die (vielschichtig differenzierte) werktätige Masse erfasst, mit gravierenden sozialen Erschütterungen einhergeht und die bislang gültigen und funktionsfähigen geistig-moralischen (weltanschaulichen, politischen, normativen etc.) Orientierungs- und Sinnsysteme paralysiert. Im Einzelnen lassen sich folgende „Knotenpunkte“ der Krisensituation unterscheiden:
- Verschärfung der ökonomischen und sozialen Widersprüche des gegebenen Gesellschaftssystems verbunden mit einer einschneidenden Verschlechterung der Lebenssituation der Bevölkerungsmehrheit;
- Potenzierung und Ausweitung der spontanen Protestaktivitäten größer werdender Teile der Bevölkerung als Ausdruck und zugleich „verschärfendes“ Moment der zugespitzten Widersprüche/sozialen Gegensätze (vertikale Hegemoniekrise);
- infolge a. und b. kommt es zu einer Krise der politischen und ideologischen Machtausübung, die mit spezifischen Desintegrationsprozessen wie z. B. Fraktionierung und handlungsstrategischer Kohärenzeinbuße des kollektiven Herrschaftssubjekts verbunden ist (horizontale Hegemoniekrise)[20].
Im Gegensatz zu dogmatisch-voluntaristischen Auffassungen hat bereits Lenin festgestellt, dass nicht aus jeder gesamtgesellschaftlichen (potentiell revolutionären) Krisensituation eine Revolution hervorgeht, sondern nur aus einer solchen, in der zu den objektiven krisenhaften Lageverschlechterungen die subjektive Fähigkeit der progressiven Akteure zu revolutionären Massenaktionen hinzukommt, „genügend stark, um die alte Regierung zu stürzen (oder zu erschüttern), die niemals, nicht einmal in einer Krisenepoche, ‚zu Fall kommt’, wenn man sie nicht ‚zu Fall bringt’ (Lenin 1984, S. 207). Im Anschluss daran hat nun Gramsci das Potential der herrschenden Klasse zur machtbehauptenden (reaktionären) Überwindung der Hegemoniekrise, also zur ganzheitlichen Reorganisierung ihrer Herrschaft, reflektiert. Er stellt fest: „Die Krise erzeugt unmittelbar gefährliche Situationen, weil die einzelnen Bevölkerungsschichten nicht gleichermaßen fähig sind, sich rasch zu orientieren und sich in gleichem Rhythmus zu reorganisieren. Die traditionelle Führungsklasse, die über ein zahlreiches, ausgebildetes Personal verfügt, wechselt Menschen und Programme und gewinnt so die Kontrolle zurück. … Sie bringt vielleicht Opfer, liefert sich selbst durch demagogische Versprechungen einer ungewissen Zukunft aus, behält aber ihre Macht, verstärkt sie für den Augenblick und bedient sich ihrer, um den Gegner zu zerstören und dessen nicht sehr zahlreiches und gut ausgebildetes Führungspersonal zu zersplittern.“ (Gramsci 1967, S. 332.)
Als wesentlichen Ausdruck der „Hegemoniekrise der Führungsklasse“ hebt Gramsci den Prozess der Loslösung der Beherrschten von den traditionelle Parteien hervor (Konsensaufkündigung), deren ideologischer Aspekt der Prozess der ‚Katharsis’, d. h. die kognitive und emotionale Selbstreinigung von verinnerlichter Herrschaftsideologie ist (Beispiel: Verspottung der katholischen Kirche in der Flugschriftenliteratur der Reformationszeit).
Demnach setzt die Herausbildung einer revolutionären Krise aus einer gesamtnationalen Krise das Zusammentreffen zweier Gegebenheiten voraus:
- a) den horizontalen Bruch innerhalb der herrschenden Klasse/Führungsmacht (Verlust des herrschaftsstrategischen Zusammenhalts) und
- b) den vertikalen Bruch zwischen herrschender und beherrschter Klasse (Verlust der ideologisch-moralischen Dominanz/Führungsfähigkeit der Herrschenden).
Um die reaktionäre Überwindung der Hegemoniekrise zu blockieren und eine progressive Lösung der gesamtnationalen Krise zu realisieren, sind demnach folgende subjektiven Voraussetzungen bzw. Anforderungen zu erfüllen:
1) Fähigkeit der progressiven Kräfte zu „durchschlagenden“ Massenaktionen, die eine reale Entmachtung der Herrschenden herbeiführen. Diese Kompetenz ist an zwei Prämissen geknüpft:
- a) an die Aneignung einer tragfähigen kritischen Orientierungs- und Überzeugungsgrundlage sowie einer entsprechenden politischen Programmatik und Strategie;
- b) die Herausbildung organisierender und mobilisierender „Zellen“ in Form handlungs- und kommunikationsfähiger Kollektive sowie
- c) an den relativ hohen und breiten Verankerungsgrad herrschaftskritischer Dispositionen (Überzeugungen, Orientierungen, Stimmungen) innerhalb der Bevölkerung (Entfaltungsgrad der ‚Katharsis’).
Betrachten wir nun die iranische Entwicklung im Lichte dieses revolutionstheoretischen Diskurses, dann ergibt sich etwa folgendes Bild:
1) Es lassen sich deutliche Hinweise auf eine horizontale Hegemoniekrise, d. h. tiefere Risse zwischen unterschiedlichen Abteilungen der herrschenden staatsislamistischen Kräfte feststellen. Dabei stehen sich folgende Konfliktgruppen gegenüber:
- Die aktuell tonangebende „Beton-Fraktion“ des Religionsführers Khamenei und „seines“ Ministerpräsidenten Ahmadinedschad, die sich auf die „neureichen“ Führungskräfte der Pasdaran und die Spitzenkräfte des Militärapparats stützen. Politischer Ausdruck dieses Machtkartells ist der Tatbestand, dass mehr als die Hälfte der von Ahmadinedschad ernannten Minister aus den Reihen der „Revolutionsgarden“ stammen. Im Zuge der Privatisierung von Staatsunternehmen wurden diese Kreise darüber hinaus im Sinne eines gezielten Klientelismus mit Aktien und Firmenanteilen sowie Zuwendungen für ihre frommen Stiftungen überaus üppig bedacht. Hinzu kommen Abzweigungen aus den Öleinnahmen in die Taschen der Begünstigten. Beistand erhält diese ultrareaktionäre Führungsgruppe durch die geistliche Sekte „Anjoman-e Khayryyehye Hujjatiyyah-ye Mahdaviat“ (Die mildtätige Gesellschaft des Mahdi). Ihr Vordenker ist Ayatollah Mohammad Taghi Mesbah-Yazdi, der religiöse Berater Ahmadinedschads. Dieser „ist für seine extremen Ansichten zum Islam bekannt und unterstützt Selbstmordattentate und Angriffe auf Zivilisten im Westen. Es gibt für ihn nur einen Islam. Er sagte einmal: ‚… wenn irgendjemand Euch seine eigene Interpretation des Islam vorstellt, schlagt ihm aufs Maul!’“[21] Diese Herrschaftsgruppe steht für einen unversöhnlichen Kurs im Atomstreit, für eine betont aggressive Politik gegenüber Israel, für eine Intensivierung der internen Repression in Form einer erweiterten Militarisierung der Gottesdiktatur sowie für verschwörungsideologische Provokationen gegen den Westen. So wurden England, die USA und andere Staaten des Westens bezichtigt, die Protestbewegung vom Ausland zu steuern und die deutsche Regierung allen Ernstes beschuldigt, sie hätte den Mord in einem Dresdener Gericht, begangen von einem russischen Zuwanderer an einer Ägypterin, in Auftrag gegeben. Insgesamt weist diese ultrareaktionäre Militärfraktion alle Merkmale einer absolut verhandlungsunfähigen und -unwürdigen Staatsführung auf. Allerdings zeigen sich mittlerweile bereits auch interne Querelen innerhalb dieser Gruppe. So musste der Vizepräsident Maschaie, seines Zeichens Schwiegervater von Ahmadinedschads Sohn, aber wegen israelfreundlicher Aussagen im Fadenkreuz der Kritik radikalislamistischer Kreise stehend, auf Druck des Religionsführers Khamenei sein Amt niederlegen. Gemäß der „Versorgungsregeln“ der staatsislamistischen Oligarchie wurde er allerdings postwendend zum Berater Ahmadinedschads ernannt und mit dem kompensatorischen Amt des Leiters des Präsidentenbüros betraut. Auch die Entlassung des Geheimdienstministers Mohseni Edscheie zeugt von Ungereimtheiten im Lager der ultrareaktionären Kräfte.
Auf der anderen Seite nutzt Ahmadinedschad das Kokettieren seiner herrschaftsinternen Widersacher (Rafsandschani, Mussawi. Khatami) mit übernommenen Forderungen der Oppositionsbewegung dahingehend aus, sich gegenüber den unentschiedenen „Zentristen“ in den Reihen der Herrschaftsträger als die unverzichtbare Stütze des Systems zu präsentieren, zu dem es angesichts der zugespitzten Lage keine Alternative gibt.
- Traditionell privilegierte Gruppen des staatlich kontrollierten und privaten Islam-Kapitals mit ihrer Galionsfigur Rafsandschani sowie einige hohe Geistliche eint die Abneigung gegen das Bündnis Khameneis mit Ahmadinedschad und den „neureichen“ atomwirtschaftlichen Aufsteigern aus den Reihen der Pasdaran. Zum einen sehen sie – neben dem Argwohn auf die neue Pfründepolitik – durch den ultrareaktionären Konfrontationskurs gegen den Westen sowie die dadurch bedingte relative Isolation ihre eigenen ökonomischen Interessen beeinträchtigt (angestrebte Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation). Zum anderen ist ihnen die alleinige unbeschränkte Führungsmacht des unter den Ayatollahs nicht sehr hoch angesehenen Khamenei ein Dorn im Auge. Zudem betrachten sie den vom Mahdi-Kult besessenen „Aufrührer der Armen“, Ahmadinedschad, als destruktiven Emporkömmling, dessen Präsidentschaft einen vorsichtigen interkulturellen Herrschaftsdialog (Deal) mit der westlich-kapitalistischen Führungselite behindert und somit auch die dringend benötigten Auslandsinvestitionen zwecks Stabilisierung der Gottesdiktatur blockiert. Indem nun auch noch die Präsidentschaftswahlen, das vom Wächterrat kontrollierte „Turnier“ zwischen den islamistischen Herrschaftsgruppen, im Interesse der konfrontativen „Militärfraktion“ und zu Lasten der Vertreter der eigenen „pragmatischen Fraktion“ des Islam-Kapitals und der sich marginalisiert fühlenden Geistlichkeit manipuliert worden sind[22], haben die Letztgenannten den Übergang zum offenen intraislamistischen Disput vollzogen. Dabei ist zu beachten, dass diese Kräfte nicht etwa eine progressive Reformierung des staatsislamistischen Herrschaftssystems anstreben[23], sondern lediglich eine interessenfunktionale Modifizierung der Systemtätigkeit des totalitären Gottessstaates sowie eine Korrektur der herrschaftsinternen Pfründeverteilung im Auge haben. Angesichts der ausgebrochenen Unmutsbekundungen anlässlich der „unsauberen“ Präsidentschaftswahlen nutzt diese „pragmatische“ Fraktion nun die Gunst der Stunde, indem sie sich – in einem System ohne Meinungsfreiheit, freie Presse und demokratische Zivilgesellschaft – als Sprecher an die Spitze der Protestbewegung stellt, deren Forderungen nach Neuwahlen, Entlassung der Inhaftierten, Einstellung des repressiven Vorgehens etc. aufgreift, um dadurch die gegnerische Fraktion zu schwächen sowie in den Augen der Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit weiter zu diskreditieren. Auf diese Weise hofft man, sowohl einen Dominanzwechsel innerhalb der staatsislamischen Herrschaftsklasse realisieren zu können, d. h. selbst die Schlüsselinstanzen der Gottesdiktatur zu übernehmen und mit den eigenen Leuten zu besetzen, als auch die staatsislamistische Diktatur zu restabilisieren und den Unmut breiter Bevölkerungskreise einzudämmen bzw. systemfunktional zu kanalisieren. Betrachtet man aber im Rückblick die von einer repressiven Agenda geprägten Amtszeiten Rafsandschanis[24], Mussawis und Khatamis, so ist offenkundig, dass diese Kräfte nicht für eine Aufweichung oder gar Überwindung des totalitären Systems der Gottesdiktatur stehen, sondern lediglich für dessen interessenpolitische Effektivierung.
2) Inwieweit die Protestaufmärsche und Massendemonstrationen als Indikator für eine echte vertikale Hegemoniekrise, also für einen tief greifenden politisch-ideologischen Bruch zwischen staatsislamistischen Herrschaftsträgern und einer großen Anzahl von Beherrschten anzusehen sind, lässt sich von außen, noch dazu in Anbetracht einer völlig unzureichenden Informationslage, kaum einschätzen. Dagegen spricht m. E. als „starkes“ Argument das Ausbleiben einer nennenswerten und wirkungsmächtigen „rollierenden“ Streikbewegung bis hin zum Generalstreik mit Lahmlegung wichtiger Bereiche der wirtschaftlichen und öffentlichen Infrastruktur. Erst eine nachhaltige politische Massenstreikbewegung wäre in der Lage, den übermächtigen Apparat der Repressionsorgane entscheidend zu schwächen und „auszuzehren“ bzw. tendenziell zu demoralisieren und zu neutralisieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Unterdrückungsorgane der Gottesdiktatur von ganz anderer Qualität und Beschaffenheit sind als -sagen wir – der morsche Unterdrückungsapparat der SED im Herbst 1989.
Hinter der dominierenden Khamenei-Ahmadinedschad-Gruppe und ihres brutalen Repressionsapparats stehen die rückständigen Kräfte der Landbevölkerung sowie des in die Städte abgewanderten Landproletariats (die iranische Vendée). Hinzu kommen die Mitglieder der Repressionsorgane und ihre Familien sowie eine große Zahl der Bediensteten der „Gottesadministration“.
Unklar ist das zahlenmäßige Verhältnis zwischen jenen Teilen der städtischen Bevölkerung, die sich eine systeminterne Lockerung und soziale Verbesserungen unter einem Präsidenten Mussawi versprechen, ansonsten aber keine „Regimegegner“ sind und jenen Kräften, die eine Überwindung des islamistischen Herrschaftssystems im Sinne einer säkular-demokratischen Befreiungsrevolution anstreben („Tod der Diktatur). Zwar ist sicher davon auszugehen, dass ein großer Teil der jungen städtischen Bevölkerung, zahlreiche Frauen aus allen Schichten und Teile der städtischen Lohnabhängigen einen progressiven Regimewechsel sowie die Beseitigung der religiösen „Keuschheitsdiktatur“ anstreben, aber man weiß sehr wenig über deren genauere Orientierungen, Überzeugungen und Leitbilder (Programmatik) sowie den Grad der ‚Katharsis’ bezüglich der islamischen Indoktrination. Wer eine revolutionäre Überwindung der Gottesdiktatur anstrebt, kann jedenfalls nicht ernsthaft auf Mussawi als Führungskraft setzen. Gibt es eine antiislamistische Führungsgruppe der Opposition, über die wir nur nichts wissen? Oder fehlt es schlicht und einfach an einer klaren politisch-ideologischen Führung und Zielstruktur der Enragés, also jenes Teils der Opposition, der auch nach dem blutigen 20. Juni 2009 „Tod der Diktatur“ skandiert und sich den Pasdaran und motorisierten Gottes-Milizen in den Weg stellt?
- Die iranische Herrschaftskrise und das Ausland
Bei den Protestdemonstrationen im Juni waren Transparente zu sehen mit der Aufschrift: „Vereinte Nationen, wo seid ihr?“ Abgesehen davon, dass die UNO mittlerweile zu einer Organisation geworden ist, die von einer Mehrheit undemokratisch und menschenrechtswidrig regierter Staaten dominiert wird, artikuliert diese Frage eine tiefe Enttäuschung über mangelnde Unterstützung der iranischen Oppositionsbewegung aus dem Ausland. Ganz anders erging es hingegen den Machthabern der Gottesdiktatur: So wurde Ahmadinedschad unmittelbar nach den umstrittenen Wahlen in Russland betont herzlich an der Seite eines breit grinsenden Präsidenten Medwedew empfangen und konnte sich auch der ungebrochenen Unterstützung aus dem Lager der globalen Allianz der autokratischen und autoritären Menschenrechtsverweigerer sicher sein. Auch die deutschen Neonazis und poststalinistischen „Antiimperialisten“ stellten sich wie zu erwarten auf die Seite des Mullah-Regimes[25].
Demgegenüber übte sich der ansonsten hyperagile US-Präsident Obama in betonter Zurückhaltung und Einsilbigkeit, hatte er doch erst kurz zuvor der machtausübenden Teheraner Beton-Fraktion einen „respektvollen Dialog“ angeboten, der freilich unmittelbar abgekanzelt wurde:
1) In arrogant-überheblicher Manier erklärte der Sprecher der iranischen Gottesdiktatur, Obamas Worten müssten nun Taten folgen, um die Fehler der Vergangenheit zu reparieren. So schnell könnten die Iraner die vorherige aggressive und feindliche Politik der USA nicht vergessen. Zudem dürften die USA Teheran nicht länger beschuldigen, Atomwaffen anzustreben und den Terrorismus zu unterstützen. Einmal mehr wird hier deutlich: Selbstkritik ist schon im orthodoxen Islam nicht vorgesehen. Das gilt erst recht für die islamistischen Träger der iranischen Gottesdiktatur mit ihrem totalitären Gleichschaltungswahn. Dafür wird ein im Übermaß kultivierter Hang zur Selbstgerechtigkeit zum Ausdruck gebracht sowie die unverschämte Forderung nach Wahrheitsbeugung erhoben.
2) Zugleich düpierte die iranische Führung Obamas Annäherungsversuch mit der feierlichen Einweihung einer neuen Atomanlage in Isfahan, mit der nun der vollständige Prozess zur Herstellung von nuklearem Brennstoff abgeschlossen ist. Damit wurde erneut bewiesen, dass die ermüdende Monotonie ergebnisloser Verhandlungsrunden ausschließlich den Betreibern des iranischen Nuklearprogramms Nutzen bringt.
3) Die Aufwertung der iranischen Gottesdiktatur zu einem „Gesprächspartner auf Augenhöhe“ wurde von den Teheraner Islamisten sofort dahingehend missbraucht, die Repression im Inneren zu verstärken und die barbarischen islamischen Gottesgesetze noch ungezügelter anzuwenden.
Angesichts der ungleichen Kräfteverhältnisse im Iran, wo sich eine demokratische Oppositionsbewegung einer Übermacht brutal entschlossener Repressionskräfte gegenüber sieht, läuft eine Politik des Nichtstuns, der Zurückhaltung und der leisen Mahnungen schlicht auf unterlassene Hilfeleistung bzw. auf objektive Unterstützung des stärkeren Seite hinaus (Insofern ist „Neutralität“ in den meisten Fällen ohnehin eine Fiktion.) Moralisch setzt sich damit „the big hero“ Obama eindeutig ins Unrecht.
Zudem ist eine „Politik des wechselseitigen Respekts“ gegenüber einem totalitären Herrschaftssystem auch aus rationalen Gründen eine verfehlte Vorgehensweise. Das gilt insbesondere für ein totalitäres System mit einer islamischen Identität, die keine Gleichberechtigung zwischen Rechtgläubigen, Andersgläubigen und Ungläubigen zulässt und obendrein dem zutiefst irrationalen Mahdi-Kult frönt. „Respekt“ heißt in einem islamischen Deutungsrahmen nämlich immer, von der nichtmuslimischen Umwelt letztendlich die Anerkennung der eigenen Überlegenheit einzufordern und keinerlei Kritik an der eigenen vormodern gewirkten Herrschaftskultur zuzulassen. „Respekt“-Politik gegenüber den islamischen Herrschaftsträgern läuft deshalb tendenziell immer auf die Selbstdemontage der eigenen säkular-demokratischen Prinzipien hinaus. Deshalb darf es weder eine „Gleichberechtigung“ zwischen demokratischen und menschenrechtsfeindlichen Systemen geben noch dürfen islamische Diktaturen „respektvoll“ behandelt werden.
Auch unterliegt der amerikanische Präsident einem Irrtum bzw. schlechter Beratung, wenn er dem staatsislamistisch beherrschten Iran die Absicht und die Fähigkeit unterstellt, ein stabilisierender Faktor in der Krisenregion des Nahen und Mittleren Ostens werden zu wollen. Das Gegenteil ist der Fall, wie auch bereits von anderer Seite festgestellt wurde:
Die Islamische Republik ist nicht an einer Stabilisierung des Nahen Ostens interessiert. Sie ist der größte Destabilisierungsfaktor in dieser Region, und mit der Islamischen Republik wird es kein Stabilisierung der Nachbarländer und Krisengebiete geben.“[26]
Gerade angesichts der „unsauberen“ Wahlen und der ausgebrochenen Herrschaftskrise müsste der internationale Druck auf die Führung der staatsislamistischen Diktatur verstärkt werden. Dazu würden gehören: 1) die Nichtanerkennung des unsauber wieder an die Macht gelangten Präsidenten Ahmadinedschad; 2) die Forderung nach international überwachten Neuwahlen; 3) die Unterstützung der Forderungen der iranischen Oppositionsbewegung und die klare Verurteilung der brutalen Repressionen durch die westlichen Regierungen sowie 4) die Verschärfung der wirtschaftlichen Sanktionen (Einschränkung der Exporte, insbesondere der Benzinexporte, und Investitionen) bis zum Einlenken Teherans im Rahmen des Atomstreits.
Die Gründe für die Politik der leisen Töne, des Wegduckens und des Achselzuckens gegenüber dem Iran (bei gleichzeitiger Erregung über Honduras) liegen in den ökonomischen und politischen Interessen der westlichen Profiteure am interkulturellen Herrschaftsdeal mit den Machthabern der islamischen Herrschaftskultur. Dabei geht es einerseits um in Aussicht stehende Ölgeschäfte mit der iranischen Gottesdiktatur (als Akteur der OPEC) als auch um die Aufrechterhaltung und Erweiterung europäischer und der Revitalisierung amerikanischer Exportwirtschaftsinteressen. Zudem ist die islamische Staatengemeinschaft einschließlich Iran international längst so stark aufgestellt, dass sie der spätkapitalistisch-westlichen Herrschaftselite Sanktionsangst einjagen kann (Ölpreis; Mehrheit in UNO-Gremien).
Zudem ist grundsätzlich zu berücksichtigen, dass sich die Entfaltung der kapitalistischen Ökonomie in Wirklichkeit sehr gut mit autokratischen/totalitären Herrschaftsverhältnissen, der Missachtung von Menschenrechten und der Abwesenheit zentraler Aspekte der kulturellen Moderne verträgt. „Grundregulator bzw. oberste Handlungsmaxime der bürgerlich-kapitalistischen (Re-)Produktionsweise ist nicht die Einhaltung von abstrakten Rechtsnormen und moralischen Setzungen, sondern die Maximierung von Profit“ (Krauss 2003, S. 20). Das postkommunistische „räuberkapitalistische“ Russland oder der chinesische Modernisierungsprozess unter partei- und staatsdiktatorischer Führung bieten weiteres reichhaltiges Anschauungsmaterial bezüglich der organischen Synthese bzw. nahtlosen Vereinbarkeit von Kapitallogik und menschenrechtsfeindlicher Herrschaftskultur. Nicht den Schurken ‚an sich’ gilt daher der Argwohn des Westens, sondern nur den „bösen“/unbotmäßigen Schurken, während man mit den „guten“/anpassungsbereiten Schurken Zweckbündnisse und gewinnträchtige Allianzen schließt.
Andererseits ist aber auch zu bedenken, dass eine starrköpfige und auf Konfrontation ausgerichtete Staatsführung, die in der Art der iranischen Gottesdiktatur im Atomstreit agiert und zugleich in eine tiefe Legitimationskrise geraten ist, aufgrund dieser Mischung aus Starrsinn und Schwäche die Befürworter einer militärischen Lösung auf den Plan ruft bzw. in ihren Absichten ermuntert und bestärkt. So stellte Israels Verteidigungsminister Barak gegenüber seinem amerikanischen Amtskollegen erneut klar, dass Israel einen Militärangriff auf das iranische Atomprogramm nicht ausschließt, nachdem allerdings zunächst Diplomatie und möglicherweise stärkere Sanktionen Vorrang hätten. Allerdings wird das diesbezügliche Zeitfenster für sanktionsbewehrte Verhandlungslösungen zunehmend kleiner. Entsprechend wurden von iranischer Seite auch schon präventive Drohungen ausgesprochen. So erklärte der Oberkommandierende der Pasdaran, Dschaafari, iranische Truppen würden Israels Atomanlagen angreifen, sollte Israel Irans Atomanlagen bombardieren. „‚Unsere Raketen haben die Reichweite und Präzision dazu’, sagte Dschaafari im arabischsprachigen Sender Irans, ‚Al Alam’. Die Shahab-3-Rakete soll eine Reichweite von 2000 Kilometer haben. Auch behauptet Iran, seine Kampfflugzeuge könnten mit einer Tankfüllung nach Israel und zurück fliegen.“[27]
Schlussbetrachtung und Ausblick
Gerade am durchaus schwerwiegenden Beispiel des islamischen Gottesstaates wird deutlich, dass es sich bei der verbreiteten Behauptung, wonach das Religiöse die angestammte bzw. genuine Quelle der Moral sei und ihm deshalb eine apriorische Demuts- und Ehrfurchtshaltung zukomme, um ein ideologisches Trugbild handelt. Die vielfach erwiesene historisch-gesellschaftliche Wahrheit besagt vielmehr, dass das Religiöse in sehr häufigen Fällen als selbstheiligende und damit besonders nachhaltig entfesselnde und enthemmende Legitimations- und Antriebsdroge für besonders gewaltsames bis barbarisches Herrschaftshandeln gedient hat und nach wie vor dient. D. h.: Gerade im Religiösen findet das eigentlich ‚Böse’, nämlich das Streben nach zwischenmenschlicher Herrschaft und Unterdrückung (sowie dessen gleichzeitige Beweihräucherung), einen besonders perfiden Bündnispartner[28].
Die bestimmenden Verantwortlichen der iranischen Gottesdiktatur sind keine kleine und unbedeutende oder marginale Gruppe, sondern islamische Geistliche, die im Rahmen ihrer absoluten Verfügungsmacht das gesamte Programm eines totalitären Repressionsstaates im Namen Allahs anwenden: Blutiges Niederknüppeln und Töten von Oppositionellen; willkürliche Inhaftierung und Folter; Zensur und Gleichschaltung; Einschüchterung und Korruption; Verschwörungsideologie und Schauprozesse etc. Diese konkrete Form islamisch legitimierter Herrschaftsausübung ist von erheblich größerer Aussagekraft und repräsentativer Relevanz als all jene abgehobenen und subjektivistischen bzw. voluntaristischen Behauptungs- und Deutungsversuche, die den Islam aus unterschiedlichsten Motiven schönzufärben versuchen. Seriöse Wissenschaft bezieht sich dagegen auf harte Fakten und kann nicht auf Wunschdenken, Spekulation oder erdichteter Konstruktion basieren.
Aufgrund der brutalen Übermacht des gottesstaatlichen Repressionsapparates, dem Ausbleiben einer Massenstreikbewegung sowie mangelhafter Unterstützung aus dem westlichen Ausland dürfte eine aktuelle Durchsetzungsfähigkeit der regimekritischen Oppositionsbewegung – neben den genannten Gründen – kaum möglich sein. Allerdings wird die systemnotwendige Verschärfung der staatsislamischen Repression sowohl die Risse im Block der Herrschenden vertiefen als auch die Unzufriedenheit der Massen verstärken. Damit bleibt die „Islamische Republik Iran“ der herausragende Kandidat für eine säkular-demokratische Befreiungsrevolution auf dem Boden der islamischen Herrschaftskultur. Eine solche „leitrevolutionäre“ Umwälzung wäre ein Schlüsselereignis für die gesamte islamische Welt und würde diese in ihrem prämodernen politisch-ideologischen und kulturellen Beharrungszustand auf intensive Weise erschüttern. Auf alle Fälle zöge der Sturz der staatsislamistischen Gottesdiktatur den Zusammenbruch der Achse Teheran-Hisbollah-Hamas nach sich und könnte damit eine friedliche Lösung des Israel-Palästina-Konflikts (Minimierung der Gefahr eines islamistischen Palästinenserstaates) erheblich erleichtern. Ob das Schicksalspendel der Führer der Gottesdiktatur dann mehr auf die Seite von Karl Stuart[29] und Louis Capet[30] über Benito Mussolini bis zum Ehepaar Ceausescu und Saddam Hussein oder auf die Seite von Erich Honnecker und Co. schwingen wird, kann dann ggf. im Lichte der vergleichenden Revolutionsgeschichte der Neuzeit betrachtet werden.
Literatur
Farzan, Saba: Schlecht beraten: Obama und der Iran.
http://www.tagesspiegel.de/meinung/kommentare/Iran-Barack-Obama-Proteste;art141,2830011
Gramsci, Antonio: Philosophie der Praxis. Eine Auswahl. Herausgegeben und übersetzt von Christian Riechers mit einem Vorwort von Wolfgang Abendroth. Frankfurt am Main 1967.
Hekmat, Mansoor: June 20, 1981: One of the Greatest Crimes of the 20th Century. Interview with Mansoor Hekmat. Translated by Maryam Namazie and Fariborz Pooya. First Published in Persian by Radio “International” in June 2000.
Hermann, Rainer Vom Vizepräsidenten zum Bürochef. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Juli 2009, S. 2.
Krauss, Hartmut: Zum Charakter der Oktoberrevolution. http://www.glasnost.de/autoren/krauss/okrev1.html
Krauss, Hartmut: Voraussetzungen und Wesenszüge des Stalinismus als gesellschaftliches und ideologisches Phänomen. In: Edition kritischer Marxismus Band 1: Beiträge zur Stalinismus-Diskussion. Berlin 1997, S. 21-62.
Krauss, Hartmut: Faschismus und Fundamentalismus. Varianten totalitärer Bewegung im Spannungsfeld zwischen ‚prämoderner’ Herrschaftskultur und kapitalistischer ‚Moderne’. Osnabrück 2003.
Lenin, W. I.: Der Zusammenbruch der II. Internationale. In: Lenin-Werke, Bd. 21, Berlin 1984, S. 197-256.
Lenin, W. I.: Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus. In: W. I. Lenin. Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band V. Berlin 1971, S. 463-573.
Markov, Walter; Soboul, Albert: 1789. Die Große Revolution der Franzosen. Köln 1977.
Meier, Andreas: Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Originalstimmen aus der islamischen Welt. Wuppertal 1994.
NN.: Wer ist Ahmadinedschad? In: HINTERGRUND III-2007, Osnabrück, S. 5-8.
Raddatz, Hans-Peter: Iran. Persische Hochkultur und irrationale Macht. München 2006.
Schilfert, Gerhard: Die englische Revolution 1640-1649. Berlin 1989.
Schirra, Bruno: Iran. Sprengstoff für Europa. Berlin 2006.
Schneider, Michael: Das Ende eines Jahrhundertmythos. Eine Bilanz des Sozialismus. Köln 1992.
Trimondi, Victor und Victoria: Krieg der Religionen. Politik, Glaube und Terror im Zeichen der Apokalypse. München 2006.
Wahdat-Hagh, Wahied: Die Herrschaft des politischen Islam als eine Form des Totalitarismus. „Die Islamische Republik Iran“. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 115, 29. Jg., 1999, Nr. 2, S. 317-342.
Wahdat-Hagh, Wahied: „Die Islamische Republik Iran“. Die Herrschaft des politischen Islam als eine Spielart des Totalitarismus. Münster 2003.
Osnabrück, August 2009
[1] Das Konzept der „Regierung der Rechtsgelehrten“ (wilayat al-faqih) besagt nach Khomeini, „dass die Rechtsgelehrten verpflichtet sind, gemeinsam oder einzeln zum Zweck der Vollstreckung der koranischen Strafgesetzte (hudud) und des Schutzes der Grenzen und der Ordnung des Islam eine religiöse Regierung zu bilden, … denn die Rechtsgelehrten sind von Gott designiert“ (zit. N. Meier1994, S. 335).
[2] Nach Expertenmeinung ist die mit deutscher Hilfe installierte Zensur-Infrastruktur in Iran hochmodern und noch effektiver als die chinesische. Vgl. FAZ vom 26. Juni 2009, S. 39: „Das Netz ist in den Händen der Regierung“.
[3] Im Vergleich zum zaristischen Russland und dem kaiserlichen China stellen sowohl die stalinistische als auch die maoistische Modernisierungsdiktatur – trotz aller Abscheulichkeiten – eine gesellschaftliche Höherentwicklung dar. Demgegenüber markiert die „Islamische Republik Iran“ im Vergleich zur Modernisierungsdiktatur des Schah-Regimes eher einen gesellschaftlichen Rückschritt. Zum Charakter der Oktoberrevolution einerseits und dem differenten Wesen des Stalinismus andererseits vgl. Krauss 1991 und 1997.
[4] Bemerkenswert ist in diesem Kontext auch der Tatbestand, dass das Foltergefängnis des Schahregimes, das Teheraner Evin-Gefängnis, von den Herrschern der Gottesdiktatur übernommen und weiter bestialisiert wurde. „Nach Aussage der ehemaligen Insassin Marina Nemat, die über zwei Jahre im Evin-Gefängnis einsaß, überlebten von ihren Zellengenossinnen im Trakt 246 keine die Haftzeit. Während der Haftzeit von Nemat war – nach ihren Angaben – der Trakt, der in Schah-Zeiten mit 50 Personen belegt war, mit 650 Frauen belegt“ http://de.wikipedia.org/wiki/Iran.
[5] Ein blutiges Lehrstück für die verheerende Auswirkung der Logik „Der Gegner meines Feindes ist mein Freund“ bietet das Schicksal der iranischen Tudeh-Partei. Wahdat-Hagh (1999, S. 322) schreibt hierzu: „Im Februar 1983 wurde die moskauorientierte Tudeh-Partei und ihre Jugendorganisation, die ‚Volksfedajin-Mehrheit’, als letzte oppositionelle Organisation verboten. Die Tudeh-Partei stützte sich auf die Positionen eines sowjetischen Entwicklungsstrategen, der Khomeini zwar nicht als einen Sozialisten, aber als einen Antiimperialisten, einen Feind des imperialistischen Feindes schätzte. Die khomeinistische Basis sei die revolutionäre Kleinbourgeoisie, propagierte die Tudeh-Partei. Tatsächlich besteht die soziale Basis der Kaste der herrschenden Geistlichkeit aus den rückständigsten traditionellen Schichten der iranischen Gesellschaft, das Lumpenproletariat eingeschlossen. Mitte Mai 1983 wurden führende Parteimitglieder der Tudeh-Partei, wahrscheinlich unter Drogen, im staatlichen Fernsehsender vorgeführt. Sie bereuten einer ‚fremden Ideologie’ angehangen zu haben. In den Massenhinrichtungen 1980-82 und 1988 wurden Tausende verhaftet und in den Gefängnissen gefoltert und hingerichtet.“
[6] Das gilt insbesondere für Ali Shariati (1933-1977), für den sich sowohl die „linksislamische“ Volksmojahedin als auch die kommunistischen Fadayin begeisterte. „Er galt als ihr Vorbild, weil er provokativ war, weil er westlich gebildet, aber gegen den Klerus, für soziale Gerechtigkeit, aber gegen die säkularen Sozialisten und Kommunisten“ (Wahdat-Hagh 2003, S. 128).
[7] „‚Wilaya’ bedeutet im Arabischen eher Machtausübung und Vormundschaft sowie im Persischen Heiligkeit und Erhabenheit. Die Kombination beider trifft den Charakter der schiitischen Herrschergewalt, die sich von der Heiligkeit des Verborgenen Imam ableitet“ (Raddatz 2006, S. 148).
[8] Wie Schirra bemerkt, sind es solche autoritativen Gedanken, die sich heute in iranischen Schulbüchern finden und den Kindern Tag für Tag eingepflanzt werden. Zudem: Sind nicht solche Grundaussagen eines staatsgründenden Islamgelehrten allemal aufschlussreicher und schwerwiegender als das dementierende Gesäusel spezifisch trainierter muslimischer Verbandsfunktionäre und Kaderschwestern in deutschen Talkrunden?
[9] Laut der Verfassung von 1979 ist der entrückte Imam, der nach seiner Wiederkehr ein Goldenes Zeitalter einleiten soll, das offizielle Staatsoberhaupt.
[10] Diese regimetreuen 290 Abgeordneten sind zuvor aus einer Menge von manchmal über 3.000 Kandidaten ausgesiebt worden.
[11] Ein Bewerber für das Präsidentenamt muss gemäß Artikel 115 der Verfassung zunächst einmal „mindestens 30 Jahre alt und iranischer Abstammung sein, die iranische Staatsangehörigkeit besitzen, fromm sein und an den Islam glauben“ (Wahdat-Hagh 2003, S. 297). Zudem muss er männlich und ein schiitischer Muslim sein und sich dazu bekennen, als Wächter der offiziellen Staatsreligion zu dienen.
[12] Das wesentliche Identitätsmerkmal der „Zwölferschiiten“ ist die Annahme einer Ketten von zwölf rechtmäßigen Imamen, angefangen mit Ali, dem vierten Kalifen als erstem Imam und seinen Söhnen Hassan und Husayn als zweiten und dritten Imam. Nach dieser Lehre ist der zwölfte rechtmäßige Imam nicht gestorben, sondern in die Verborgenheit entrückt und wird eines Tages als ‚Mahdi’ (Messias) zurückkehren und dann ein Goldenes Zeitalter bewirken.
[13] Vgl. hierzu ausführlich: http://www.igfm.de/Die-Wiedereinfuehrung-des-islamischen-Strafrechts-in-Iran.612.0.html. Zum Aufbau des staatsislamistischen Justizwesens vgl. Wadath-Hagh 2003, S. 314-320.
[14] Die Fakten sowie die Fallschilderung sind entnommen aus: 2008 Jährliche Übersicht über die Verletzung von Gewerkschaftsrechten Iran (Islamische Republik).http://survey08.ituc-csi.org/survey.php?IDContinent=5&IDCountry=IRN&Lang=DE
[15] Vgl. die Angaben bei http://www.youtube.com/watch?v=pKOYflgM1zc
[16] http://www.handelsblatt.com/politik/international/machtkampf-der-mullah-milliardaere;2395876
[17] In der Provinzhauptstadt Ghom befindet sich die wichtigste theologische Ausbildungsstätte für schiitische Religionsgelehrte in Iran.
[18] http://nlarchiv.israel.de/2008_html/09/Infobrief%20vom%2022.09.2008a.htm#n4
[19] „800.000 Afghanen verdienten nach Angaben des Herater Flüchtlingsministeriums illegal ihr Brot auf dem Bau und in den Fabriken des Irans, nach Angaben des Irans sollen es bis zu 1,5 Millionen sein. Während im vom Krieg erschütterten Afghanistan die Arbeitslosigkeit auf bis zu 60 Prozent geschätzt wird, werden die zumeist ungelernten Afghanen im Iran als Billiglohnarbeiter auf dem Bau und in den Fabriken geschätzt. „Im Iran können wir als Tagelöhner bis zu zehn Dollar am Tag verdienen, in Afghanistan zwischen einem und drei Dollar“, erklärt der 23 Jahre alte Abdul Qodos die Motive zur Schwarzarbeit im Nachbarland. Vom Lohn aus dem Iran lebten oft bis 20 und mehr Familienangehörige in der Heimat.“ Wer wissen möchte, wie Abschiebung in einem islamischen Land funktioniert, sollte den ganzen Artikel „Prügel für afghanische Flüchtlinge“ lesen: http://www.focus.de/politik/ausland/iran_aid_55390.html
[20] Lenin (1971, S. 539) führt als notwendige Bedingung der Revolution den Umstand an, „dass die herrschenden Klassen eine Regierungskrise durchmachen, die sogar die rückständigsten Massen in die Politik hineinzieht (das Merkmal einer jeden Revolution ist die schnelle Verzehnfachung, ja Verhundertfachung der Zahl der zum politischen Kampf fähigen Vertreter der werktätigen und ausgebeuteten Masse, die bis dahin apathisch war), die Regierung kraftlos macht und es den Revolutionären ermöglicht, diese Regierung schnell zu stürzen.“
[21] Wer ist Ahmadinedschad? In: HINTERGRUND III-2007, S. 5-8.
[22] Vertreter dieser Fraktion betrachten die Wahlmanipulation im Interesse des pfründepolitischen Machterhalts der Khamenei-Ahmadinedschad-Gruppe und damit ihre eigene Marginalisierung als „Staatsstreich“.
[23] Insofern ist es schlicht irreführend, westzentristisches Bewertungsvokabular wie „reformorientiert“, „moderat“, „rechtsislamistisch“, „linksislamistisch“ etc. für die Charakterisierung der interessenpolitisch und herrschaftsstrategisch inkongruenten staatsislamistischen Herrschaftsfraktionen zu verwenden, wie es in der abhängigen, regierungsnahen Politikberatung zwar üblich, aber dennoch realitätsverzerrend ist.
[24] So erklärte der von abhängigen westlichen Beratungswissenschaftlern als „gemäßigt“ eingestufte Rafsandschani in einer Freitagspredigt am 13. Dezember 2001 zum Beispiel zum Nahost-Konflikt: „Die Anwendung einer einzigen Atombombe würde Israel völlig zerstören, während sie der islamischen Welt nur begrenzte Schäden zufügen würde. Die Unterstützung des Westens für Israel ist geeignet, den Dritten Weltkrieg hervorzubringen, der ausgetragen wird zwischen den Gläubigen, die den Märtyrertod suchen, und jenen, die der Inbegriff der Arroganz sind.“ Wenn der Iran erst einmal über Atomwaffen verfüge, so ebenfalls Rafsandschani, würden diese mit Blick auf Israel „nicht nur zur Abschreckung dienen“ (Schirra 2006, S. 151f.)
[25] Vgl. HINTERGRUND II-2009.
[26] Saba Farzan: Schlecht beraten: Obama und der Iran.
http://www.tagesspiegel.de/meinung/kommentare/Iran-Barack-Obama-Proteste;art141,2830011
[27] Rainer Hermann: Vom Vizepräsidenten zum Bürochef. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Juli 2009, S. 2.
[28] Vgl. hierzu ausführlich meine radikal-humanistische Antwort auf die Herrschaftsanmaßung monotheistisch-fundamentalistischer Religiosität in Krauss 2003, Teil 4,21.
[29] Am 30. November 1649 wurde „Karl Stuart als Tyrann, Verräter, Mörder und Feind der englischen Nation“ hingerichtet. (Cromwell: „Wir wollen das Haupt abschneiden mit der Krone darauf!“.) Vgl. Schilfert 1989, S. 158f.
[30] Am 21. September 1792 beschloss der Nationalkonvent einhellig die Abschaffung des Königtums in Frankreich. In der Antragsbegründung hieß es: „Die Könige sind in der moralischen Ordnung dasselbe wie die Ungeheuer in der natürlichen. Die Höfe sind Werkstätten des Verbrechens, Herde der Korruption und Schlupflöcher der Tyrannen. Die Geschichte der Könige ist die Leidensgeschichte der Nationen“ (Markov/Soboul 1977, S. 243).