Antonio Gramsci und Martin Sellner
Eric Angerer
Der Neogramscianismus der Neuen Rechten bietet einige interessante Ansätze. Gleichzeitig ist er aus mehreren Gründen zum Scheitern verurteilt.
Der spätestens seit der „Geheimkonferenz“ in Potsdam berüchtigte Identitäre Martin Sellner stützt sich bei seinem Konzept eines „Regimes Change von rechts“ grundsätzlich auf den italienischen Marxisten Antonio Gramsci, in der konkreten Ausgestaltung auf den US-Politikwissenschaftler Gene Sharp.
Im privaten Rahmen hatte Sellner vor unterschiedlichen interessierten Zuhörern im November 2023 einen Vortrag gehalten. Mediale Vergleiche mit der Wannseekonferenz, also der Planung eines industriellen Massenmordes durch mehrere staatliche Institutionen, waren eine krasse Verharmlosung des Nationalsozialismus. Von geplanten „Deportationen“, von denen diverse Medien dann schrieben, war bei dem Vortrag nicht die Rede.
Stattdessen war und ist Sellner offenbar bemüht, seine Vorschläge für eine „Remigration“ von außereuropäischen Zuwanderern, die er politisch, sozial und kulturell unverträglich findet, betont rechtsstaatlich zu gestalten. Man kann seine Forderungen falsch oder richtig finden, mit willkürlichen Deportationen oder gar der Wannseekonferenz hat sein Ansinnen nichts zu tun. Das kann man auch in seinem mittlerweile erschienen Buch „Remigration: Ein Vorschlag“ nachlesen.
Bei der Kampagne der Kartellparteien, ihrer staatlichen Einrichtungen und Medien gegen Sellner ging es offenkundig darum, den Aufschwung der AfD zu stoppen, sie zu kriminalisieren und zu spalten. Bei all der Aufregung ging unter, dass Sellner bei seinem Vortrag keineswegs nur über Remigration sprach, sondern wesentlich breiter und grundlegender über die Ausrichtung des rechten Lagers. Im Wesentlichen fasste er sein im Juni 2023 erschienenes Buch „Regime Change von rechts: Eine strategische Skizze“[1] zusammen.
Sellners Systemanalyse
Mit diesem umfangreichen Text versucht Sellner, die neurechten Diskussionen über strategische und taktische Fragen zu ordnen und theoretisch zu unterfüttern. Diesem Anspruch wird er durchaus gerecht. Als „Hauptziel“ definiert er explizit den „Erhalt der ethnokulturellen Identität“ und die Sicherung der Existenz des deutschen Volkes.
Im Abschnitt „Systemanalyse: Wo stehen wir?“ fasst Sellner nur kurz zusammen, wie das herrschende globalistisch-linksliberale Regime die Auflösung der europäischen Nationen betreibt – durch die Verschiebung von Entscheidungsmacht zu supranationalen Institutionen und durch außereuropäische Massenzuwanderung. Danach wird er grundlegender und führt in Antonio Gramscis Hegemonietheorie sowie in Louis Althussers Verständnis der ideologischen Staatsapparate ein.
Der Kopf der identitären Bewegung erläutert, wie öffentliche Meinung produziert, gesteuert und kontrolliert wird. Er benutzt dabei Begriffe wie „sanfter Totalitarismus“ und „Meinungskorridor“ sowie das Modell des „Overton-Fensters“, das den Rahmen der Ideen bezeichnet, die im öffentlichen Diskurs akzeptiert werden und das verschiebbar ist.
Außerdem spricht Sellner von „Demokratiesimulation“. Es ist zutreffend, dass immer mehr Gesinnungsdelikte geschaffen und das herrschende Parteienkartell und ihr Staat gegen Oppositionelle immer repressiver werden. Im Corona-Regime wurde das offenkundig. Sellner schreibt, die öffentliche Meinung sei das Produkt eines Filters des Systems, den er als „Meinungsklimaanlage“ bezeichnet, nicht das Ergebnis des freien Spiels der Kräfte.
Mit letzterem nährt er liberale Illusionen in eine „echte Demokratie“ der Chancengleichheit und des besseren Arguments. Eine solche Demokratie hat es kaum je gegeben. Auch in den guten alten Zeiten des „freien Westens“ haben Kapitalgruppen durch Lobbying und ökonomischen Druck politischen Einfluss ausgeübt, wurde die Justiz politisch besetzt und waren Medien politisch gelenkt oder selbst Konzerne mit bestimmten Interessen und oftmals guten Beziehungen zu Machtzirkeln.
Das festzustellen sollte aber nicht dazu führen, die Veränderungen der letzten Jahrzehnte nicht wahrzunehmen. Tatsächlich haben die Demokratien der Völker der Nationalstaaten zuletzt immer mehr an Möglichkeiten verloren, sind immer stärker von externen Vorgaben abhängig. Und diese Vorgaben kommen von supranationalen Institutionen wie der EU-Kommission, europäischen Gerichtshöfen oder der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die nur sehr mangelhaft demokratisch legitimiert sind, oder gar von informellen Zusammenschlüssen wie dem World Economic Forum (WEF). Insofern ist es wahr, dass das politische System zunehmend totalitärer wird und Demokratie immer mehr zur Fassade verkommt.
Neun Nonstrategien
In einem kurzen Abschnitt definiert Sellner, was er unter der „Rechten“ versteht. Liberalkonservative gehören für ihn ebenso wenig dazu wie die „alte Rechte“, „die implizit oder explizit in der Tradition des historischen Nationalsozialismus“ steht und die völlig gescheitert und chancenlos sei. Die einzig zeitgemäße Rechte sei die Neue Rechte, der es vorrangig um den Erhalt der ethnokulturellen Identität der europäischen Völker gehe.
Diese Neue Rechte bestehe aus fünf verschiedenen Bereichen, nämlich aus der Partei, der aktivistischen Bewegung, der medialen Gegenöffentlichkeit, der Theoriebildung und der Gegenkultur. Jeder dieser Bereiche habe bestimmte Aufgaben, die sich gegenseitig ergänzen und unterstützen müssten.
In diesem Milieu gäbe es verschiedenste politische und unpolitische Ansätze, von denen Sellner neun als „Nonstrategien“, als undurchdacht und perspektivlos betrachtet. Einige seiner Argumente erinnern an innerlinke Debatten der vergangenen Jahrzehnte.
Eine der Nonstrategien sei die „Arche-Noah-Taktik“, also die „Rettung“ der eigenen Familie durch eine Flucht aufs Land oder ins Ausland, begleitet durch politisches Unauffälligbleiben unter dem Radar des Systems. Sie sei kein Beitrag zum Erhalt der ethnokulturellen Identität und würde die eigenen Kinder später ja doch der zerstörerischen Gesellschaft ausliefern.
Die „Elitenunterwanderung“ durch unauffälliges Erklimmen der Karriereleiter sei oftmals die Rechtfertigung einer Flucht ins Private und raube dem rechten Lager wichtiges Führungspersonal. Der „lange Marsch durch die Institutionen“ der 68er-Linken sei nicht vergleichbar, weil das ein offener und organisierter politischer Kampf gewesen sei. Mit letzterem hat Sellner überwiegend Unrecht. Die allermeisten 68er handelten ebenfalls aus entpolitisierter Anpassung. Dass dieses Milieu dann die Institutionen dennoch politisch dominieren konnte, hat andere Gründe, über die noch zu sprechen sein wird.
Das „Tag-X-Denken“, die Hoffnung auf eine von außen kommende erlösende Wende, durch einen Finanzcrash, einen Blackout, antiglobalistische Militärs oder gar Außerirdische lähme seine Anhänger politisch. Ein stures Einfordern einer „geistigen Wende“ des Landes als Voraussetzung für das rechte Hauptziel zu machen, sei esoterisch und intellektuelle Eitelkeit; Länder wie Japan, Südkorea, Ungarn und Israel würden beweisen, dass eine andere Bevölkerungspolitik möglich sei.
Die Annahme des „Akzelerationismus“, dass das System immun gegen Widerstand sei, sei unbewiesen und theoretisiere die Hoffnungslosigkeit seiner meist intellektuellen Anhänger. Das Konzept des „Infokrieges“ reduziere oppositionelle Aktivität auf Medienarbeit. Dabei sei es illusorisch, die herrschende Ideologie durch die Gegenöffentlichkeit zu übertönen, da die Verschränkung mit Politik und Justiz sowie die Finanzierung durch Staat und Konzerne fehle. Außerdem gäbe es die Tendenz, sich vor allem auf Aufrufzahlen, Abos und Empörungswellen zu orientieren.
Das Konzept der „Demowende“ hoffe – unter dem Eindruck von vom Ausland gesteuerten „Farbrevolutionen“ – darauf, durch Großkundgebungen und Platzbesetzungen einem Umschwung bewirken zu können. In westlichen Demokratiesimulationen seien Versuche wie „Occupy Wallstreet“, die „Gelbwesten“ oder der „Kapitolsturm“ 2021 bislang aber gescheitert. Voraussetzung für den Erfolg sei nämlich, dass die metapolitische Lage reif sei und die Mehrheit der Bevölkerung Streiks unterstütze.
Beim so genannten „Babo-Denken“ gehe es um gangartige Zusammenschlüsse um einen Babo, also einen Boss oder Alphamann, bei denen Provokationen und Posen jugendlichen Idealismus vergeuden, der für zielgerichtete politische Arbeit nötig wäre. Ähnlich argumentierten marxistische Gruppierungen traditionell gegen subkulturelle Linke. Die Anhänger einer „Verfassungswende“, etwa die „Reichsbürger“, würden, so Sellner, aus der Verfassung einen Fetisch machen und nicht verstehen, dass Macht über die Interpretation von Verfassungen entscheide.
Vier Leitstrategien
Eine Leitstrategie, der Parlamentspatriotismus, beschränke sich auf die Wahlebene, vermeide vom System tabuisierte Themen und sei stets um Anschlussfähigkeit bemüht. Außerparlamentarische Teile der Bewegung werden häufig als gefährlich betrachtet, da sie Wähler abschrecken könnten. In der Folge würde sich der Parlamentspatriotismus oft vom rechten Umfeld distanzieren, um Wohlwollen des Mainstream zu erheischen. Es fehle ein klares Verständnis für das Funktionieren des Systems und für Metapolitik. In Regierungsverantwortung würden die Parlamentspatrioten mangels kultureller Hegemonie vom ideologischen Staatsapparat und tiefen Staat gelähmt und könnten keine nachhaltige Veränderung durchsetzen. Damit übt Sellner eine sicherlich treffende Kritik.
Die Leitstrategie der Militanz wolle die derzeitige Machtelite mit militanten Mitteln überwinden und staatspolitische Gestaltungsmacht mit physischer Gewalt erringen. Ihr Zwischenziel sei stets der Aufbau paramilitärischer Macht und ihr Fokus liege deshalb auf apolitischen und antidemokratischen Sphären. Diese Ausrichtung sei aus prinzipiellen Gründen abzulehnen, aber auch strategisch falsch. Ihre Anhänger würden zwar die Demokratiesimulation durchschauen, würden aber mit ihrer apolitischen „Abkürzung“ das Funktionieren des Systems dennoch nicht verstehen.
Auf dem Gebiet der physischen Gewalt seien oppositionelle Bewegungen – ohne die zuvor politisch errungene Sympathie in Armee, Polizei und Verwaltung – fast immer hoffnungslos unterlegen. Der selbstzerstörerische Lauf von kleinen militanten Gruppen ins offene Messer stabilisiere die herrschende Ideologie, Gewalt und Terror legitimieren das angegriffene System. Militante Gruppen würden allzu leicht zu einer steuerbaren Waffe gegen das rechte Lager. Die notwendigen konspirativen Strukturen würden die Militanten außerdem von einer breiteren Bewegung isolieren. Letztlich sei die Strategie der Militanz ein fanatisch-irrationaler Ausdruck von Ohnmacht von rechten Aktivisten.
Mit dieser Einschätzung hat Sellner sicherlich Recht. Seine Kritik erinnert stark an die traditionelle marxistische Haltung gegenüber linken Terroristen. Wladimir I. Lenin etwa sprach von einer „Ideologie der Verzweiflung von individualistischen Kleinbürgern“. Und Leo Trotzki führte aus:
„Warum Versammlungen, Massenagitation und Wahlen, wenn man so leicht von der Galerie des Parlaments auf die Ministerbank zielen kann? Eben deswegen ist individueller Terror in unseren Augen unzulässig: denn er schmälert die Rolle der Massen in ihrem eigenen Bewusstsein, denn er söhnt sie mit ihrer eigenen Machtlosigkeit aus und richtet ihre Augen und Hoffnungen auf einen großen Rächer und Befreier, der eines Tages kommen wird und seine Mission vollendet. (…) Und als Ergebnis kommen anstatt der erweckten Hoffnungen und der künstlich angestachelten Erregung Desillusion und Apathie.“[2]
Die Leitstrategie der Sammlung ist für Sellner eine Notlösung für den Fall, dass der Kampf gegen die von der UNO für Europa geforderte „Replacement Migration“ scheitert. Wenn der demografische Kipppunkt erreicht (also die Islamisierung der Gesellschaft unumkehrbar) sei, könne die metapolitische und staatpolitische Macht nicht mehr erobert werden. Dann müssten alle personellen und materiellen Ressourcen in einer Region des Landes gesammelt und dort Parallelstrukturen aufgebaut werden, um zumindest in dieser Region die Politik bestimmen zu können. Ob das ein globalistischer und stark islamisierter Zentralstaat zulassen würden, kann bezweifelt werden.
Bis zum Kipppunkt des „Bevölkerungsaustausches“, den Sellner in gut 20 Jahren ansetzt, steht für ihn allerdings die Leitstrategie der Reconquista im Vordergrund, die er als den „Königsweg“ bezeichnet. Der Begriff geht natürlich zurück auf die Rückeroberung der von den islamischen Mauren besetzten iberischen Halbinsel durch die christlichen Völker. Der französische Begriff für Rückeroberung, Reconquete, bezeichnete ja auch die islam- und migrationskritische Partei von Eric Zemmour und Marion Maréchal in Frankreich.
Sellner versteht unter Reconquista eine Strategie zur Erringung metapolitischer Macht. Im praktischen Teil legt er dabei großen Wert auf die Protestformen der „nonviolent action“ nach Gene Sharp. Theoretisch stützt sich der politische Anführer der österreichischen Identitären auf den italienischen Marxisten Antonio Gramsci und sein Konzept der kulturellen Hegemonie.
Gramscis kulturelle Hegemonie
Der aus dem agrarischen Sardinien stammende Gramsci schloss sich als Student in Turin der sozialistischen Arbeiterbewegung an und gehörte 1921 zu den Mitbegründern der italienischen Kommunistischen Partei. Er war später wohl kein begeisterter Anhänger der stalinistischen Bürokratisierung, leistete aber keinen konsistenten Widerstand und arrangierte sich letztlich. Er starb 1937 nach langer faschistischer Haft und Krankheit im Alter von 46 Jahren.
Die Problematik des Auseinanderklaffens Italiens in einen industrialisierten Norden und einen agrarischen Süden mit starkem katholischem Übergewicht prägte wesentlich seine politischen Überlegungen: Wie ist eine sozialistische Umwälzung möglich, solange das konservative, bäuerlich-klerikale Element in der Bevölkerung deutlich dominiert? Für Gramsci konnten die Kommunisten nur dann erfolgreich sein, wenn das Proletariat seine Hegemonie über die Zivilgesellschaft herstellen konnte. Die Zivilgesellschaft bedeutete für ihn alle Bereiche der Gesellschaft außerhalb der klassischen staatlichen Institutionen, der Parteien und Organisationen – also den Bildungsbereich, die Kultur, die Medien etc. Es ging also um die Vormacht im ideologischen Staatsapparat.
Einen zentralen Stellenwert in Gramscis Theorie nehmen die Intellektuellen ein – sie sind die Überreder im Dienste der herrschenden Klasse, die Verkäufer der Hegemonie der herrschenden Klasse. Gelingt es dem Proletariat, die Intelligenz auf seine Seite zu ziehen, kann es einen historischen Block errichten, eine Einheit unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Kräfte herstellen. Gramsci hatte ein Verständnis von Staat, Partei und Revolution, das deutlich stärker von der hegelianisch gefärbten humanistisch-idealistischen Philosophie Benedetto Croces (1866-1952) geprägt war als von Dialektik und Klassentheorien des Marxismus.
Das Hegemonie-Konzept Gramscis trägt in wesentlichen Punkten starke bürgerlich-aufklärerische Züge – die Revolution sei erst dann möglich, wenn das Proletariat seine ideologische Vorherrschaft hergestellt habe. Damit entsteht die Tendenz, das alte gradualistisch-reformistische Etappenkonzept der Sozialdemokratie zu beleben, wonach für den Anfang langsam und schrittweise die Kräfteverhältnisse in der (Zivil-) Gesellschaft in Richtung Sozialismus verschoben werden müssten, bevor der Kapitalismus gestürzt werden könne.
Das erklärt wiederum auch, warum sich Gramsci in den 1970er und insbesondere 1980er Jahren bei postrevolutionären 68er-akademischen Linken und sogenannten linken Sozialisten großer Beliebtheit erfreute. Bei manchen linken Gramsci-Fans war schließlich auch die resignative Phrase, dass sich erst einmal das Bewusstsein der Menschen – durch die geduldige Arbeit der Sozialdemokratie oder durch den politischen Anspruch von Intellektuellen – ändern müsse, bevor die Gesellschaft verändert werden kann, nicht mehr weit.
Gramsci hat für die Kommunisten wichtige Fragen aufgeworfen – etwa das Problem, wie die bürgerliche Ideologie und insbesondere ihre politischen Vertreter in der Arbeiterbewegung zu bekämpfen sind. Allerdings handelt es sich bei Gramsci und noch mehr bei seinen Anhängern um mehr oder weniger deutlichem Schematismus. Natürlich kämpfen traditionelle Kommunisten, die das System wirklich herausfordern wollten, immer um politischen Einfluss unter Arbeitern, Jugendlichen und anderen Gruppen. In Zeiten eines stabilen Kapitalismus und einer gefestigten bürgerlichen (Zivil-)Gesellschaft mit ihrem Staatsapparat, ihren Schulen und ihren Medien sind die Möglichkeiten da aber begrenzt. Eine politische Hegemonie des Proletariats, um der es traditionellen Kommunisten geht (und nicht um eine diffuse „linke“ Hegemonie einer bürgerlichen Zivilgesellschaft gegenüber einem bürgerlichen Staat), ist nicht immer möglich.
Erst in Krisensituationen des Systems gibt es aus traditionell kommunistischer Sicht die Chance, dass eine aktive organisierte Minderheit, die revolutionären Kräfte, eine Mehrheit der Lohnabhängigen für eine antikapitalistische Perspektive gewinnt. Die Bewusstseinsentwicklung der Mehrheit der Klasse erfolgt nicht nur, aber vor allen in der Bewegung, in Aktion, dann allerdings oft sehr rasch – so rasch, dass linke Organisationen, in die sich ein gewisser Konservativismus eingeschlichen hat, immer wieder hinterher hinken. Außerhalb zugespitzter Situationen geht es für traditionelle Kommunisten vor allem darum, Kräfte zu sammeln, zu organisieren und sich so weit wie möglich in der Arbeiterklasse zu verankern.
Demgegenüber haben reformistische Organisationen ein statisches Verständnis. Sie orientieren sich nicht auf die Gewinnung der Ausgebeuteten in kämpferischen Dynamiken für eine antikapitalistische Umwälzung, sondern akzeptieren den Status quo der (ungünstigen) politischen Verhältnisse, die sie dann durch Bündnisse und Zugeständnisse an bürgerliche Parteien und Strömungen langsam – gradualistisch – verändern wollen. Das ist die klassische Konzeption der Sozialdemokratie. Und es ist die Konzeption des „Kulturmarxismus“, der sich aus Gründen, die noch zu besprechen sind, in den letzten Jahrzehnten in der Linken durchgesetzt hat.
Seit den 1970er Jahren bemühten sich viele Linken, die sich von ihrem superrevolutionären Radikalismus der 68er-Revolte absetzten, ihre Integration in das kapitalistische System mit Berufung auf Gramsci zu rechtfertigen. Diese Berufung erfolgt teilweise zu Unrecht, denn Gramsci war sicherlich subjektiv ein Revolutionär und mit den meisten seiner Fans nicht zu vergleichen. Teilweise erfolgt diese Berufung aber auch zu Recht, denn Gramscis theoretisches Modell von Zivilgesellschaft und Hegemonie liefert tatsächlich Ansatzpunkte für ein gradualistisches politisches Konzept, für einen Marsch durch die Institutionen.
Leitstrategie Reconquista
Sellner sieht die von ihm propagierte Leitstrategie der Reconquista als „das Ergebnis einer neurechten Weltanschauung in Verbindung mit marxistischer Systemanalyse und Revolutionstheorie sowie progressiv-linksliberaler Praxis.“ Seine Berufung auf die marxistische Revolutionstheorie wird noch zu diskutieren sein. Sellner führt seine Strategie jedenfalls auf über 120 Seiten detailliert aus.
Der Erhalt der ethnokulturellen Identität der europäischen Völker soll durch die Eroberung der kulturellen Hegemonie erreicht werden: „Eroberung und Sicherung der nötigen politischen Macht geschieht durch den Aufbau metapolitischer Macht.“ Durch „Parteiarbeit, Aktionismus, Massenorganisation, Gegenkultur, Gegenöffentlichkeit und Theoriebildung“ baue man „metapolitische Ressourcen“ auf, bis eine kritische Masse erreicht ist. So könne die herrschende Ideologie überwunden werden. Aus der „Entmachtung und Eroberung des Ideologischen Staatsapparats und der Verschiebung des Overtonfensters“ könne sich „ein gesellschaftliches Klima ergeben“, in dem rechte Parteien eine andere Bevölkerungspolitik durchsetzen könnten.
Der „Fokus der Ressourcen“ liege dabei „auf der Eroberung der Schlüsselstellen des Ideologischen Staatsapparats wie der Universität, der Presse, Kunst und Kultur.“ Zwischenziel für das rechte Lager sei die „Veränderung des Diskurses und die Überwindung der gegnerischen kulturellen Hegemonie.“ Der Hauptfeind sei daher die herrschende Ideologie. Mit diesem Ansatz folgt, wie wir sehen werden, Sellner keineswegs der klassischen marxistischen Revolutionstheorie, sondern dem Kulturmarxismus Gramscis.
Jedenfalls formuliert er als „Kernthese der Reconquista“: „Erst wenn der Bevölkerungsaustausch als entscheidende politische Frage metapolitisch etabliert und enttabuisiert ist, kann er durch eine Partei politisch beendet werden.“ Die Reconquista wende dabei die Erkenntnisse der „nonviolent action“ und die Konzepte der Bürgerrechtsbewegung und der „Farbrevolutionen“ an. Je nach Reaktion des Systems und seines Repressionsapparats erreiche die Reconquista ihre Ziele durch soziale Transformation, die er als „social change“ und „Orbanisierung“ bezeichnet, oder durch eine aktionistische Wende, die er „regime change“ oder „Maidanisierung“ nennt.
Offenbar werden damit die Begriff Reform und Revolution umschrieben. Der Ansatz erinnert etwas an den Austromarxismus, der ja eine Machtübernahme der Arbeiterklasse durch demokratische Mehrheiten favorisierte, sich aber für den Fall staatlicher Repression den Weg der Revolution offen hielt.
Sellner entwirft eine Art Formel für seine Leitstrategie. Neben Organisation und Strategie spiele auch die Botschaft eine bedeutende Rolle: „Der mobilisierbare, organisierte Kern des rechten Lagers reißt durch die richtige Wahl der Botschaft Sympathisanten mit und strahlt über das rechte Lager in konservative, liberale und sozialistische Randgebiete aus.“ Eine entscheidende Rolle spiele dabei die „anschlussfähige Provokation“, die jeweils im Grenzbereich des Overtonfensters angesiedelt sein müsse und schrittweise eine Diskursverschiebung bewirke.
Laut empirischen Studien hätten gewaltfreie Widerstandsbewegungen eine Erfolgsrate von 90 Prozent, sobald fünf Prozent der Bevölkerung aktiv beteiligt seien. Dann könne es zu massiven Gehorsamsausfällen im repressiven Staatsapparat kommen. Auch die französische oder russische Revolution sei wie andere revolutionäre Systemwechsel metapolitisch vorbereitet gewesen. Eine materielle Lageverschärfung allein spüle nicht Ohnmächtige an die Macht, sondern verhelfe – so Sellners wohl treffende Einschätzung – den am besten organisierten und metapolitisch am besten positionierten Kräften zur besten Chance.
Anders als systemkonforme Bewegungen wie „Fridays for Future“ oder „Black Lives Matter“ sei das rechte Lager tatsächlich oppositionell und verfüge über keine verbündeten Eliten oder Lobbygruppen im Machtzentrum des Systems. Das stimmt sicherlich für etliche Politikfelder wie insbesondere die außereuropäische Massenzuwanderung als Teil des globalistischen Ziels zu Zerstörung der europäischen Nationalstaaten.
Eine solche tatsächliche Opposition stellen auch die französischen Gelbwesten, die Gegner des Corona-Regimes, die Kritiker der Klima-Religion und von Transhumanismus und Great Reset dar. Gemeinsam ist den meisten von ihnen mit dem neurechten Lager, dass sie die Verfügungsgewalt der globalistischen Oligarchen über ihre transnationalen Konzerne nicht in Frage stellen. Stattdessen hofft etwa Sellner auf einen „Elitenwechsel“, ein Überlaufen der Intellektuellen und eine Erosion und Übernahme der ideologischen Staatsapparate. Das ist zum Scheitern verurteilt.
Unpassende Vergleiche
Sellners positive Bezugnahme auf die prowestlichen „Farbrevolutionen“ in Osteuropa, die er explizit als konzeptionell und nicht als Parteinahme verstanden haben will, ist jedenfalls fragwürdig. Das rechte Lager hat ebenso wenig wie die Gelbwesten oder die Widerstandsbewegung gegen das Corona-Regime und anders als Oppositionsgruppen in Serbien, Georgien oder der Ukraine bis 2013 keine ausländischen „NGOs“ mit Geheimdienstverbindungen, keine ausländischen Oligarchen, keine internationalen Medien und keine ausländische Großmacht hinter sich. Stattdessen hat sie die Eliten im eigenen Land, Staatsapparate, Medien, staatsnahe „NGOs“, diverse Großkonzerne und transnationale Institutionen gegen sich.
Da auch Sellner an einer Stelle auf diesen Unterschied hinweist, dürfte ihm die Schwäche dieses Vergleichs und der Konzentration auf die entsprechenden Protestformen nach Gene Sharp ansatzweise bewusst sein. Und in Ländern wie Ungarn, Weißrussland, Syrien, Russland selbst und partiell Georgien, wo die Regierungen Bewusstheit über Machenschaften von westlichen „NGOs“ und Geheimdiensten haben, funktionieren die „Farbrevolutionen“ auch nicht mehr wie gewünscht.
Interessanter ist die Frage, ob für die neue Rechte oder Gegner der Corona-Regimes, von Green Deal und Klima-Religion, von Gender-Ideologie und Transhumanismus Gramscis Konzept der Eroberung der kulturellen Hegemonie, wie bei den 68er-Linken ein Marsch durch die Institutionen, eine Übernahme der ideologischen Staatsapparate und damit ein „Elitenwechsel“ möglich ist. Interessanter ist diese Frage auch deshalb, weil Sellner mit diesem Ansatz in der neuen Rechten nicht allein ist. Auch der Vorsitzende der AfD Thüringen, Björn Höcke, hat sich in diesem Sinne auf die 68er bezogen. Allerdings ist Sellners und Höckes Erklärung für die linksliberale Vorherrschaft unvollständig, denn ein wesentlicher Aspekt fehlt.
Aus dem berechtigten und richtigen Protest der 1968er-Aktivisten gegen reaktionäre Strukturen und in Deutschland und Österreich auch gegen die die Nazi-Kontinuitäten in Konzernen, Staatsapparat und Universitäten entstanden in den 1970er- und 1980er-Jahren Bewusstsein und Aufarbeitung. Mit den Niederlagen der Arbeiterbewegung gegen den neoliberalen Kapitalismus, der Defensive des Marxismus und der Integration der 68er in das herrschende System und ihrer Entwicklung zur neuen intellektuellen „Elite“ fand dann aber eine politische Anpassung statt.
Die ehemaligen 68er-Linken und die von ihnen beeinflusste nachkommende Generation von Geisteswissenschaftlern sitzen an wichtigen Stellen in Universitäten, Medien, staatlichen Institutionen und den Werbeabteilungen von Konzernen und ihr Sein bestimmt auch ihr Bewusstsein. Sie haben gute und bequeme Posten, bekommen staatliche Förderungen aus Steuermitteln und verabscheuen das „primitive“ Volk, das diese Steuern aufbringt. Ihr „Marxismus“ wurde seines Klasseninhaltes beraubt und ist zum „Kulturmarxismus“ degeneriert. Sie arbeiten sich an allen möglichen Identitäten ab und übertrumpfen sich gegenseitig in politischer Korrektheit und merken gar nicht, wie sehr sie in der Agenda des Großkapitals gefangen sind.
Die herrschende Klasse instrumentalisiert sehr geschickt Humanität und Fortschrittlichkeit für ihre Interessen. Der Krieg von USA/NATO gegen den Irak wurde mit der ideologischen Untermauerung geführt, dass Saddam Hussein der „neue Hitler“ sei. Und weil das so gut funktioniert hatte, trommelte der Ex-RAF-Sympathisant Joschka Fischer als deutscher Außenminister für den NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 mit den Worten „nie wieder Auschwitz“. In beiden Kriegen wurde mit diversen Lügen gearbeitet — in Bezug auf den Kosovo gar mit der Erfindung von KZs, die Serbien betreiben würde —, in beiden Kriegen setzten die USA Uranmunition ein, die die Bevölkerung verstrahlte.
Auch sonst sind das globalistische Großkapital und seine politischen Vertreter trotz der ohrenbetäubenden Humanitätspropaganda alles andere als „fortschrittlich“. Sie machen durchgängig Politik für die großen Konzerne und Banken und gegen die arbeitende Klasse. Durch Handelsabkommen mit Afrika zerstören sie die dortigen Ökonomien und befeuern damit Migrationswellen und Kriege. Sie unterstützen islamische Extremisten, wenn es ihren geopolitischen Zielen dient.
Dennoch hat sich die modern-humanistische Fassade für die herrschende Klasse dermaßen bewährt, dass sie spätestens seit dem NATO-Krieg 1999 immer farbenprächtiger gestaltet wurde. Ein großer Vorteil davon war und ist, dass sie wesentlich dazu beiträgt, die Linke als potenzielle Gegnerin zu neutralisieren oder sogar ins eigene Fahrwasser zu bringen.
Marxisten sollten, dem eigenen Anspruch nach, an die Politik der herrschenden Klasse mit einer grundlegenden Skepsis herangehen und sich immer fragen, warum ein bestimmter Kurs eingeschlagen wird, welche Interessen dahinter stehen. Wenn seit etwa 30 Jahren die Globalisten ihre Kriege, ihr Projekt EU und die Umverteilung nach oben durch Corona- und Klimapolitik immer mehr mit Schlagworten wie Frieden, Menschenrechte, internationale Solidarität et cetera bemänteln, dann erinnert das nicht nur an den totalitären „Neusprech“ in George Orwells Roman „1984“, sondern dann ist vor allem Misstrauen angesagt! Wenn mehr oder weniger alle großen Konzerne, das gesamte Finanzkapital der EU und die allermeisten Medien die neoliberale Bevölkerungstransferagenda nach Europa oder die aktuelle Corona- und Great-Reset-Politik unterstützen, dann muss das stutzig machen!
Die allermeisten Linken sind aber weder stutzig noch misstrauisch, sondern gehen der „fortschrittlichen“ Propaganda des Kapitals auf den Leim. Das gilt besonders für diejenigen, deren politische Sozialisierung nicht in der Arbeiterbewegung erfolgt ist, sondern durch grün-linke Lehrer oder an den kulturlinken Unis. Dieses akademische linke Milieu geht nicht mit einem Klassenstandpunkt an Phänomene heran, sondern mit diffusen postmodernen moralisierenden Konzepten. In der Folge sind sie zu einem politischen Anhängsel des globalistischen Großkapitals geworden.
Der Marsch der 68er in die Institutionen des Staates ist aber nicht die Ursache für die globalistische Politik der Banken und Konzerne. Die Ursache liegt vielmehr in der Expansionslogik des Kapitals und in den Interessen der dominanten Kapitalgruppen. „Diversity“ ist ursprünglich ein Managementkonzept. Als Ideologie der domestizierten Kulturlinken passt es allerdings perfekt zur globalistischen Agenda. Deshalb wird diese Ideologie an Unis und in Medien auch dermaßen gefördert und zu einem religiösen Mantra gemacht, werden Häretiker an den Pranger gestellt.
Insofern werden Höcke und Sellner mit ihrer Mosaikrechten auf absehbare Zeit keine kulturelle Hegemonie erringen können. Ihre Konzepte passen nicht zu den Plänen des globalistischen Kapitals, anders als die angepassten 68er können sie nicht auf der Welle der Kapitalinteressen nach oben schwimmen. Lediglich eine tiefe Krise des Kapitalismus und eine Rückkehr von wesentlichen Kapitalgruppen zum Protektionismus könnte Bedarf an neurechter ideologischer Begleitung schaffen. Wenn neue Rechte oder andere heute die Projekte des Globalismus stoppen wollen, können sie das nicht mit dem Großkapital und den Eliten tun, sondern nur gegen sie.[3]
Revolutions- und Klassentheorie
Martin Sellner beendet seine „strategische Skizze“ mit einem Zitat aus Wladimir I. Lenins Schrift „Was tun?“. Es geht dabei um revolutionäres Bewusstsein und die Notwendigkeit, kühn und „groß“ zu denken. Freilich hätte es dem Anführer der Identitären gut getan, sich auch bezüglich Revolutions- und Klassentheorie weniger an Gramsci und mehr an Lenin zu orientieren.
Lenin definierte im Jahr 1915 eine revolutionäre Situation durch eine Kombination mehrerer Aspekte: Die herrschende Klasse kann ihr System nicht mehr in unveränderter Form aufrechterhalten. Die Empörung der unterdrückten Klassen verbindet sich mit Friktionen in der politischen Führung der herrschenden Klasse. Die Not der unterdrückten Klassen verschärft sich „über das gewohnte Maß hinaus“. Durch die Verhältnisse der Krise steigert sich die Aktivität der Massen beträchtlich.[4]
Der Gegner jeder echten Oppositionsbewegung ist mächtig. Hinter den Corona-Regimes, der „Replacement Migration“, der Klima-Politik und dem Great Reset stehen mehr oder weniger das gesamte Großkapital und seine globalistischen Institutionen. Wenn eine Maßnahme oder eine Regierung weg ist, bleibt die Agenda dieser Leute weiter bestehen. Es wird nur zu leicht eine neue Regierung aus dem globalistischen Parteienkartell installiert, die dieselben Absichten mit ähnlichen Maßnahmen verfolgt. Aber selbst diese mächtigen Konzerne und Netzwerke sind nicht allmächtig. Mit einer Vertiefung der ökonomischen und sozialen Krise und einem wachsenden Widerstand aus den Bevölkerungen können auch in der globalistisch herrschenden Klasse Risse und Widersprüche auftreten.
Wenn man sich an Lenins Überlegungen orientiert, kann man feststellen, dass etliche der genannten Aspekte bereits erfüllt sind oder möglicherweise bald erfüllt sein werden. Dass sich die Aktivität der Massen beträchtlich steigert, ist wahrscheinlich, die Friktionen in der herrschenden Klasse sind durchaus möglich. Umso beschämender, dass die allermeisten der Linken, die jahrzehntelang in studentischen Subkulturen von Revolutionen fantasiert haben, nun, wo ein Generalangriff des weltweiten Kapitals auf die demokratischen Errungenschaften und die arbeitenden Klassen läuft und sich Widerstand dieser Klassen formiert, als Lakaien oder sogar Scharfmacher der Herrschenden agieren.
Das ist nicht nur auf ideologische Verirrung zurückzuführen, die in Folge der fortschrittlich-humanistischen Kostümierung der globalistischen Kapitalherrschaft auftritt. Dass die meisten Linken zu Trittbrettfahrern, Handlangern und Beratern des Systems verkommen sind, hat vielmehr handfeste Ursachen. Die meisten sind abgehoben von der arbeitenden Bevölkerung, die sie als dumpf und rückschrittlich verachten, und materiell an das Regime gebunden, durch Jobs in Medien, Unis, Schulen oder anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes, in staatlich oder durch Stiftungen geförderten „fortschrittlichen“ NGOs, Projekten oder Initiativen.
Durch Förderungen abhängig gemacht oder sichere Jobs in das System integriert und korrumpiert sind diese Schichten nur dort „kritisch“, wo es der Mainstream wünscht, in den wesentlichen Fragen kritiklos der Agenda der Herrschenden verhaftet, von „Refugee welcome“ über die Klimafrage bis zu den Corona-Repressalien. Sie wissen sich vom Staat verlässlich getragen und danken ihm das — Anpassung für Sicherheit und Wohlstand. Deshalb wäre es eine naive Illusion zu glauben, dass man besonders die Intellektuellen oder gar „Eliten“, etwa Uniprofessoren, Lehrer, Journalisten, Richter, Polizisten oder Künstler gewinnen müsse/könne und über sie, die staatliche oder ideologische Macht haben, eine Änderung in der gegenwärtigen Politik herbeiführen kann.[5]
Das Gegenteil ist richtig. Diese materiell und ideologisch eingekauften Gruppen werden die letzten sein, die sich einer Massenbewegung anschließen. Nahezu jede historische Erfahrung mit Massenbewegungen, die ein Regime grundsätzlich herausfordert, zeigt, dass die große Mehrheit des klassischen sowie des ideologischen Staatsapparats sehr lange zögert, ihre Privilegien aufzugeben.
Dafür, dass sich Richter und Polizisten, Uniprofessoren und Journalisten den Wünschen der Herrschenden verweigern und sich dem Volk anschließen, muss viel passieren. Erst wenn eine Massenbewegung sehr stark ist und ihr Erfolg immer wahrscheinlicher ist, beginnen auch die Richter und Polizisten, die Journalisten und Lehrer zu kippen.[6]
Die wesentlichen Träger des Widerstandes werden andere sein. Eine wichtige Rolle kann Jugendlichen zukommen, die die staatlichen Repressalien nicht mehr ertragen und keine Jobperspektive haben. Noch wichtiger werden Bauern, Handwerker und andere Kleingewerbetreibenden sein, deren Existenzen durch Klima-Irrsinn, EU-Vorgaben und den allgemeinen Konzentrationstendenzen des Kapitals vernichtet werden.
Die zentralste Rolle wird aber die Arbeiterklasse einnehmen. Sie ist zahlreich und — im Unterschied zu den meisten Akademikern und Staatsdienern — weniger korrumpiert und von der Mainstream-Propaganda vergleichsweise wenig beeinflusst. Das zeigte sich in den Haltungen zum Corona-Regime und ist auch hinsichtlich Migration/Islam und Klima-Religion eindeutig. Vor allem aber hat die Arbeiterklasse durch ihre Stellung im Produktions- und Zirkulationsprozess des Kapitals eine entscheidende Funktion. Ohne sie wird nichts produziert, gebaut, transportiert, verkauft, werden keine Kranken behandelt und sie hat das Potenzial, den Globalisten in den Arm zu fallen.
Schwächen und Stärken von Sellners Reconquista
Einzelne Intellektuelle, nämlich diejenigen, die wirklich mit dem System gebrochen haben, können für eine Widerstandsbewegung wichtig sein, die allermeisten Akademiker aber sind die treuesten Büttel des Regimes. Eine Ausrichtung nicht auf eine illusionäre Umkrempelung der „Eliten“, sondern auf die arbeitende, produktive Bevölkerung – das ist eine wesentliche Erkenntnis für jede ernsthafte Widerstandbewegung gegen die globalistisch-totalitäre Herrschaft.
Das galt für die Bewegung gegen das Corona-Regime, das gilt den Widerstand gegen die Enteignung der Mittelschichten durch Green Deal und Great Reset – und das gilt auch für die neue Rechte, wenn sie eine Melonisierung verhindern und echte Opposition sein will. Ansätze dafür gibt es auch bereits in der neuen Rechten – mit Kapitalismuskritik von rechts und der Strömung des „Sozialpatriotismus“. Einige Ideen ausformuliert hat dazu etwa Benedikt Kaiser mit seinem 2020 erschienenen Buch „Solidarischer Patriotismus: Die soziale Frage von rechts“.[7] Ob eine solche Orientierung durch die neue Rechte konsequent sein kann, kann angesichts ihrer politischen Charakteristika bezweifelt werden.
Was aber bedeutet – für jegliche ersthafte Widerstandsbewegung – eine Ausrichtung die produktive Bevölkerung konkret? Inhaltlich muss man sich klar darüber sein, dass ein wirklich anderer Kurs auch durch eine metapolitisch vorbereitete Regierung nicht einfach beschlossen werden kann. Stabil kann er nur erzwungen werden, indem die Macht des globalistischen Großkapitals gebrochen wird. Solange die großen Konzerne im Privatbesitz einiger Oligarchen sind und die Expansions- und Profitlogik des Kapitals in Kraft ist, wird keine dauerhafte positive Entwicklung zu machen sein.
Ein zentraler Punkt für jede Freiheitsbewegung muss deshalb die Forderung nach der Enteignung und Vergesellschaftung von Big Pharma und Big Tech, von BlackRock, Amazon, der Qatar Investment Authority und den anderen großen Konzernen und Banken sein. Es geht dabei nicht um Privateigentum an Eigenheimen oder kleinen Betrieben, sondern um die Bereiche, wo die Macht von Banken und Konzernen so groß ist, dass sie auf Wirtschaft, Politik und die Gestaltung und Entwicklung der Gesellschaft entscheidenden Einfluss nehmen.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, wer die enteigneten Betriebe dann kontrollieren soll. Wenn Firmen nur verstaatlicht sind, sie weiter nach Profitmaximierung streben, also die kapitalistischen Mechanismen intakt bleiben, dann hat sich kaum etwas geändert. Wenn die Managements von den aktuellen Politikern, die dem Globalismus verpflichtet sind, eingesetzt werden, dann ist überhaupt fast alles beim Alten. Selbst eine Verwaltung durch die Gewerkschaften wäre unzureichend, denn ihre Führungen sind in der Regel sozialdemokratische Bürokraten, die dem Corona-Regime, der neoliberalen Massenmigration und sogar diversen Deregulierungen weitgehend loyal gegenüberstehen.
Stattdessen müssten die enteigneten Kernbereiche der Wirtschaft demokratisiert werden. Die Belegschaften müssten gemeinsam mit der gesamten Bevölkerung darüber entscheiden, was ein Betrieb macht und wie er das macht. Das sind dann politische Entscheidungen, bei denen es um Vor- und Nachteile für die Gesellschaft geht. Und insgesamt muss ein weiterer Eckpunkt einer Freiheitsbewegung die Forderung nach einer massiven Ausweitung der direkten Demokratie sein, sodass sämtliche relevanten Entscheidungen von der Bevölkerung des jeweiligen Landes getroffen werden.[8]
Solche politische Ideen setzen sich aber nicht von alleine durch. Die Verbreitung von politischer Aufklärung durch unabhängige Medien und Demonstrationen sind wichtig. Aber das reicht nicht. Das Lesen von kritischen Texten aktiviert noch nicht. Demos können, das lehrt jede historische Erfahrung, nicht ständig auf einem hohen Niveau gehalten werden. Sie haben Konjunkturen, können entweder Ziele durchsetzen und sich weiterentwickeln oder sie verlieren wieder an Teilnehmerzahl. Notwendig sind dauerhafte Widerstandsstrukturen in Betrieben, in Wohnvierteln und von Jugendlichen.
Direkte Demokratie, die Kontrolle über die Wirtschaft und Enteignungen werden nicht im Kompromiss mit dem Großkapital zu machen sein, sondern nur im Konflikt mit ihm und seinen staatlichen und medialen Instrumenten. Letztlich wird das auf die Machtfrage hinauslaufen. Entweder werden die dominanten globalistischen Kapitalgruppen und seine politische Institutionen den Völkern der Welt das Fell über die Ohren ziehen oder sie werden von einer entschlossenen Arbeiter- und Freiheitsbewegung gestoppt und entmachtet.
Davon sind wir gegenwärtig weit entfernt. Aber in Zeiten dramatischer Veränderungen verändern sich auch das Bewusstsein und die politischen Kräfteverhältnisse oftmals rasend. Ehemals mächtige Organisationen sind plötzlich nur noch ein Schatten ihrer selbst. Oppositionelle Strömungen können, wenn sie über zukunftsweisende Ideen, gute Konzepte und ein gewisses Ausmaß von Strukturen und fähigen Aktivisten verfügen, ebenso rasch an die Spitze großer Bewegungen gespült werden.
Martin Sellner wirft für die neue Rechte wichtige Fragen auf, die sich jeder ernsthaften Opposition stellen, und diskutiert sie systematisch und tiefgehend. Seine Arbeit hat, egal ob man seine Thesen teilt oder nicht, egal ob man seine sonstigen politischen Vorstellungen wie etwa das Konzept des „Ethnopluralismus“ gut oder schlecht findet, Substanz. Ihre Schwächen liegen in seiner Revolutions- und Klassentheorie, letztlich also in seinem Gramscianismus. Dass er die Verfügungsgewalt der globalistischen Oligarchen über ihre Konzerne und Stiftungen nicht in Frage stellt, liegt wohl auch daran, dass er stark katholisch und rechtskonservativ geprägt ist.
Sein „Regime Change von rechts“ hat aber auch etliche Stärken. Sellners Kritik am Parlamentspatriotismus, an militanten Konzepten und an den „Non-Strategien“ ist stark und überzeugend. Seine Überlegungen zur Metapolitik und zur Verschiebung von Diskursen sind produktiv. Seine Ausrichtung und seine Vorschläge, für größere Teile des Volkes politisch anschlussfähig zu agieren und Bewegungen aufzubauen, ist für jede politische Strömung, die tatsächlich den herrschenden Globalismus herausfordern will, der einzige Weg vorwärts. Und Sellner spricht auch immer wieder von Streiks als Kampfform, womit er doch das Potential der arbeitenden Bevölkerung andeutet.
Erwähnenswert sind sicherlich auch seine fünf konkreten Ratschläge im kurzen Abschlusskapitel, „die jeder direkt beherzigen kann, um einen Beitrag zur Reconquista zu leisten.“ Erstens gelte es, persönlich stabil zu sein, um auch politisch nachhaltig handlungsfähig zu sein. Zweitens müsse jeder seinen Platz im neurechten Lager finden, der seinen Talenten und Möglichkeiten entspreche. Drittens sei die regionale Vernetzung mit Gleichgesinnten erste Pflicht, um Organisationsstrukturen zu schaffen. Viertens solle man kein Stimmungskiller, sondern Motivator sein – und fünftens eine Stütze gegen spalterische Hardliner. Das sind Aspekte, die auch viele linke Gruppierungen schon beschäftigt haben, und jedenfalls gute Empfehlungen für jede Widerstands- und Freiheitsbewegung.
Anmerkungen:
[1] Martin Sellner: Regime Change von rechts: Eine strategische Skizze, Schnellroda 2023.
[2] Leo Trotzki: Über den Terror, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1911/11/09-terro.htm
[3] Eric Angerer: Die Büttel, Teil 2/3, https://www.manova.news/artikel/die-buttel-4
[4] Wladimir I. Lenin: Der Zusammenbruch der II. Internationale, Lenin Werke 18.
[5] Eric Angerer: Neustart in die Freiheit 2/2, https://www.manova.news/artikel/neustart-in-die-freiheit-2
[6] Eric Angerer: Die Büttel 3/3, https://www.rubikon.news/artikel/die-buttel-5
[7] https://antaios.de/gesamtverzeichnis-antaios/einzeltitel/101634/solidarischer-patriotismus.-die-soziale-frage-von-rechts
[8] Eric Angerer: Neustart in die Freiheit 2/2, https://www.manova.news/artikel/neustart-in-die-freiheit-2