Politik ohne Volk. Die schleichende Entmachtung des Souveräns

 In Spätkapitalistische Systementwicklung

„Take back the control“: dieser Slogan – so britische Wahlforscher – habe die Brexit-Abstimmung entschieden. „Wieder die Kontrolle übernehmen“ bedeutet: wieder das eigene Land in Besitz haben – von der EU, von abgehobenen Eliten, von globalisierten Konzernen, von anonymen Mächten. Ibidem in den USA. Zum Sieg von Donald Trump schreibt La Stampa: „Die Amerikaner holen sich ihr Land zurück“. Für die Sozialwissenschaftlerin Katherine J. Cramer war das keine Überraschung. Im Gegensatz zu ihren Kollegen, den Mainstream-Analysten, ist sie immer wieder nach Wisconsin gefahren – einem Bundesstaat, der die Wahl Trumps mitentschieden hatte –, um dort mit den Menschen zu sprechen. Daraus entstand ihr Buch „The Politics of Resentment“. Für Cramer sind die Trump-Wähler weder geistig minder bemittelt noch reaktionär und auch nicht einfach wütend. Die Entscheidung, einem Mann wie Trump zu vertrauen, habe vor allem mit der verkannten Lebenswirklichkeit dieser Menschen zu tun und mit ihrer Selbstwahrnehmung. In einem Interview mit der Washington Post benannte sie auch gleich die Gründe für das Prognose-Debakel der Demoskopen: Um wirklich zu verstehen, wie Menschen wählen, müsse man herausfinden, „wie sie die Welt und ihren Platz in ihr sehen“, statt simpel nach der Kandidaten-Präferenz zu fragen. Cramer kritisierte „den gefühlten Mangel an Respekt“ gegenüber dem „einfachen Volk“. Viele ihrer Interviewpartner glaubten, dass die urbanen Eliten auf sie, „die ungebildeten Rassisten vom Land“, voller Verachtung herabblickten.

Trump – er mag unsympathisch sein, vielleicht sogar fies – hat etwas verstanden: das Volk ernst nehmen, ihm zuhören, seine Bedürfnisse berücksichtigen. Er war zum Beispiel in Wisconsin. Sein unmittelbarer Kontakt mit den Wählern gab selbigen das Gefühl, dass er sich für sie auch wirklich interessierte. Trump hat Menschen wieder zur Wahl gebracht, die sich schon längst von der großen Politik verabschiedet hatten. Das wurde kaum zur Kenntnis genommen. Politiker und Medien stürzten sich auf die fremden- und frauenfeindlichen Geschmacklosigkeiten Trumps. Das durchaus zu Recht, aber sie haben dabei übersehen, dass Trumps derbe Sprache ein für viele willkommenes Gegenprogramm zu den Sprechblasen der Mainstream-Politiker gewesen ist. Das sollte gewiss nicht als Beifall für Trump gelesen werden; seine Politik ist chaotisch, er selber beschränkt und egoman, und hilfreich für die Unterprivilegierten – zum Beispiel im rust belt – war bisher noch keine einzige Maßnahme.

Aber: Trump hat existentielle Ängste von Millionen Amerikanern angesprochen: den Arbeitsplatzverlust durch Auslagerung von Arbeitsplätzen, zum Beispiel nach Mexiko, die Deindustrialisierung und anschließend die Verwüstung ganzer Landstriche – Illinois, Indiana, Michigan oder Ohio – die Verelendung der dort lebenden Menschen – nirgendwo sterben mehr junge Männer an Drogen –, die zunehmende Deklassierung der Mittelschichten, der plötzliche Verlust der Wohnung wegen der Hypothekenkrise, die bürokratische Ausdehnung des Staatsapparats oder die vermutete Allmacht der Wallstreet.

Das nahm Trump auf; er hörte zu, zeigte sich dialogbereit und war an den sozialen Brennpunkten. Er bot Orientierung an, Sicherheit und auch ein Stück Zukunft: „Make America great again“. Wer am Boden liegt, kann sich mit solchen Größenvorstellungen identifizieren, selbst wenn sie sich bald nur als Größenwahn herausstellen. In Vielem unterschied sich Trumps Politikstil geschickt von dem seiner Konkurrenten. Selbst nach der Wahl. Völlig überraschend begann er eine Tour durch die Staaten, in denen er gewonnen hatte – um sich bei seinen Wählern zu bedanken. Auch sein Verzicht auf das Präsidentensalär wirkte volksnah.

Brexit und Trump signalisieren exemplarisch, was seit geraumer Zeit überall Trend ist: Politik verändert sich von einem „Top-down“ zu einem neuen „Bottom-up“. Die institutionalisierte Politik des Regierens von oben nach unten funktioniert nicht mehr geräuschlos, weil es von unten zu viele Gegengeräusche gibt. Der „Demos“ – das Staatsvolk – muckt auf und will, dass Politik – so wie es sich eigentlich in Demokratien gehört – wieder von unten nach oben gestaltet wird. Diese Entwicklung ist inzwischen ubiquitär. Das hat zur Folge, dass Protestbewegungen aus dem Boden schießen oder vielleicht trefflicher aus dem Sumpf traditioneller Politik. Die Kritik der Menschen ist in genug empirischem Material belegt. Man sollte es zur Kenntnis nehmen, wie sich das eigentlich auch als Grundhaltung gegenüber dem Souverän gehörte. Stattdessen diffamieren es die Meinungsträger als populistisch. Mittlerweile gilt alles Unerwünschte als Populismus – auch die Wahrheit. Denn das Problem ist in Wirklichkeit nicht der Populismus, sondern es sind diejenigen, die den Populisten kontinuierlich und unbesonnen die Nahrung liefern. Nicht überraschend geben die etablierten Politiker immer wieder dem Populismus die Schuld am Populismus – eine überaus bequeme Problemverschiebung. Und es ist tradierter Hochmut, dass es die Elite je besser weiß. Elite? Man wird auch das aufgrund empirischer Befunde in Frage stellen müssen. Der Begriff war einst positiv besetzt; er meinte Menschen mit einer besonderen Begabung, einer herausragenden Bildung, einem spezifischen Engagement und Weitblick – etwa in Hermann Hesses Glasperlenspiel, im klassischen Bildungsroman, den Aristokraten bei Thomas Mann oder in der politischen Theorie von Aristoteles bis Ortega y Gasset. In der Soziologie von Talcott Parsons und seinen Nachfolgern wurde von Leistungs- oder Funktionseliten gesprochen, die ihre Institutionen in idealer Weise repräsentieren. Das mag es noch geben; in globo bilden aber jene, die sich heute gerne selber als Eliten bezeichnen, Machtkartelle; sie versuchen, ihre Privilegien zu sichern und wären darüber soziologisch als Anspruchskaste einzuordnen. Der Verwaltungsjurist Hans Herbert von Arnim hat sie schon Ende der neunziger Jahre als „selbstbezogen und abgehoben“ bezeichnet. Seine Untersuchung trägt den bösen Titel: „Fetter Bauch regiert nicht gern“. Politik wird zunehmend um der Karriere willen betrieben und nicht zuvörderst wegen Sachbezug, Mission oder Engagement gegenüber dem eigenen Land. Sie ist auch zunehmend ein risikoloses Geschäft. Wer versagt, falsch entscheidet, Millionen in den Sand setzt, wird nicht sanktioniert – im Gegenteil sogar noch befördert. Das Volk ist häufig anständiger als Politiker, die zunehmend ihr Amt als Selbstbedienungsladen missverstehen. In Deutschland sollen die Bürger bis 70 arbeiten, bevor sie in Rente dürfen; Politiker kriegen schon mit 56 Pension.

Neben den Rechtsbrüchen nervt der Verstoß gegen Prinzipien. Ende 2016 will die Regierung in Rom die drittgrößte Bank mit vielen Milliarden vor dem Aus retten. Die EU verbietet solche Hilfen, die zulasten der Steuerzahler gehen. Trotzdem nickt Brüssel den Plan ab. Der Finanzhaushalt von Berlin ist seit Jahren maßlos verschuldet; im Gegensatz dazu hat Berlin aber mit großem Abstand die meisten Staatssekretäre. Und da neue Regierungen ihre eigene Anspruchskaste belohnen müssen, erhöht der rot-grüne Senat nach den letzten Wahlen die Zahl dieser gut dotierten Posten noch einmal deutlich. Skandalpolitiker – selbst wenn sie definitiv verurteilt sind – kehren in ihre Ämter zurück, wie zum Beispiel Silvio Berlusconi. Viele Politiker halten sich nicht an vereinbarte Amtszeiten und profilieren sich als Sesselkleber über Jahrzehnte. Das Volk empfindet solches als ungerecht. Das gilt auch für die zunehmenden Fehlplanungen und Bauskandale der Politik, die der Steuerzahler berappen muss. Als abstoßend empfunden wird eine Politik, die Ideologie höher gewichtet als Wirklichkeit, wie das vielfach in der Schulpolitik der Fall ist und in der Gleichstellungspolitik noch ein ganzes Stück mehr.

Geballt zeigt sich die zunehmende Abschottung der Politik bei den Treffen der „Mächtigen“. Der G7-Gipfel in Elmau wurde 2014 mit dem größten Polizeieinsatz in Bayerns Geschichte gesichert; 17.000 Beamte marschierten auf. In Dresden trafen sich „die Mächtigen der Welt zur 64. Bilderberg-Konferenz. Worüber geredet wird? Streng geheim“. Bei den jährlichen Treffen des Weltwirtschaftsforums (WEF) macht die Schweizer Armee Davos zum Sicherheitsghetto. Man bedenke: bei den genannten Treffen werden die Zukunftsfragen der Menschheit besprochen, zu einem großen Teil auch entschieden, und diejenigen, deren Leben es betrifft, sind ausgeschlossen. Das hat für das Volk einen nicht zu unterschätzenden Symbolwert.

Doch die Mächtigen schotten sich nicht nur ab; sie machen auch, was sie wollen. Sie sind der wahre Souverän, der laut Verfassung das Volk sein sollte. Legislative und Exekutive handeln immer eigenmächtiger und oft gegen Entscheide des Volkes wie z.B. bei der Masseneinwanderungs-Initiative oder im Kleinen wie in Riehen, wo man so lange über das Kabelnetz abstimmen lässt, bis der politisch gewünschte Anbieter gewählt ist. Selbst die staatstreue NZZ bemerkt, dass sich die Parteien seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative „durch Kehrtwenden und Ablenkungsmanöver“ bemerkbar machen und listet genussvoll „die schönsten Pirouetten der letzten drei Jahre“ auf. In Deutschland attestiert der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio in einem Gutachten der Immigrationspolitik der Kanzlerin einen kontinuierlichen Rechtsbruch. Andere Verfassungsrechtler bezeichnen die Grenzöffnung als „Akt der Selbstermächtigung“. Im Kleinen: Basel nach der Wahl 2016. Zwei Politiker wechseln aus Karrieregründen einfach mal die Partei, ein weiterer nimmt die Wahl nicht an, um einer jüngeren Mitstreiterin ins Parlament zu verhelfen. Und das bei einer Personen-Wahl. Der Souverän fühlt sich mit Recht nicht ernst genommen. Dass die Politiker dem Volke dienen, glauben nur noch wenige. Die Frage, ob Parlamentarier in erster Linie die Interessen der Bevölkerung vertreten, bejahten in den sechziger und siebziger Jahren europaweit mindestens drei Viertel der Befragten. Heute sind es – laut Emnid – nur noch knapp 25 Prozent. Schließlich kritisieren die Bürger die Hilflosigkeit der Politik. Ein Beispiel ist der syrisch-russische Vernichtungsangriff auf Aleppo. Während humanitäre Organisationen wie „Medecins sans Frontieres“ vom „Ende der Humanität“ sprachen, blieb die „große Politik“ untätig. Offenbar hat das Volk noch Gefühle, die das Machtkartell nicht mehr hat: Mitleid, Fürsorge, Schmerz, Wut auf die Rechtsbrecher und Gewalttäter wie Assad oder Putin.

Dass Politik und Realität auseinander driften, ist wohl geradezu symptomatisch für unsere Epoche. Die Kluft zeigt sich aber auch anderswo. In ihrem Börsenteil notiert die Süddeutsche am 11.12.2016: „Die Welt wackelt, die Wirtschaft protzt“. Nationen werden insgesamt immer reicher, aber innerhalb der einzelnen Gesellschaften wachsen die Unterschiede. Der Staat fühlt sich nur noch eingeschränkt für die Aufrechterhaltung der sozialen Infrastruktur zuständig; die Qualität von öffentlichen Schulen nimmt ab, wesentliche Versorgungsleistungen des Wohlfahrtsstaats werden eingestellt. Oliver Nachtwey hat das in seinem Buch „Die Abstiegsgesellschaft“ eindrucksvoll dokumentiert. Doch diese Wahrheit wird politisch verschwiegen oder manipuliert. Die deutsche Bundesregierung hat einem Zeitungsbericht zufolge ihren Armuts- und Reichtumsbericht in einigen entscheidenden Passagen deutlich entschärft. Klare Aussagen, dass Menschen mit mehr Geld einen stärkeren Einfluss auf politische Entscheidungen haben als Einkommensschwache, sind in der obrigkeitsstaatlich korrigierten Fassung des Berichts gestrichen worden. Auch die politisch brisante Aussage, dass „Menschen mit geringerem Einkommen auf politische Partizipation“ deshalb verzichten, „weil sie Erfahrungen machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert“, fehlt im offiziellen Endbericht.

Daniel Bonevac, Professor für Philosophie an der Universität Texas, macht solches als wichtigen Faktor für Trumps Wahlsieg aus: Von Obamas Wirtschaftspolitik hätten ein paar wenige Reiche profitiert, die meisten US-Bürger aber nicht. Aber am schlimmsten sei, wie Obama die Repräsentanten des Volkes im Kongress übergehe. „Niemand hat dafür gestimmt, die Kohleförderung zu stoppen, Teile der Einwanderungsgesetze auszusetzen, die fälligen Hochschulreformen zu beenden oder Transgender-Toiletten und -Umkleiden einzurichten. Niemand hat dafür gestimmt, politische Korrektheit entscheiden zu lassen, was man sagen darf und was nicht“. Bonevac erkennt die Entstehung von Paralleluniversen: auf der einen Seite das Machtkartell und deren Profiteure, auf deren anderen Seite das breite Volk, und das auch noch einmal aufgespalten in segregierte Milieus.

Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass das Machtkartell auch eine der letzten autonomen Bastionen der Menschen gefällt hat: das Private. Statt dieses zu respektieren, werden die Lebenswelten der Bürger orwellanisch bevormundet. Wendy Brown, feministische Politologin im kalifornischen Berkeley, bemerkt, dass nicht nur ein politischer Riss durch die USA gehe. Es habe sich auch eine „Kluft“ aufgetan, die „den Way of Life“ der Menschen betrifft: „Erziehungsfragen, Religion, Freizeitbeschäftigung, das Heimatgefühl“. Diese Lebenswelten werden inzwischen nicht nur politisch kontrolliert, sie werden auch vordefiniert. Bei einer Veranstaltung in Basel zum Thema „Heimat“, zu der Verfechter des Heimatgedankens erst gar nicht eingeladen wurden, meinte die slowakisch-schweizerische Schriftstellerin Irena Brezná: „Heimat im üblichen Sinne ist etwas für Kinder und Nationalisten. Ein denkender erwachsener Mensch hat kaum eine feste Vorstellung von diesem diffusen Wort“. Solche Arroganz stößt zunehmend auf Ablehnung. Die Menschen haben die Bevormundung einfach satt, die vorgeschriebene Korrektheit und die politischen Umerziehungsprogramme. Das Resultat ist nicht unbedingt erfreulich: lieber den Pöbler Trump als Lady Clinton.

Linke und Radikalfeministinnen haben die Gesellschaft zu ihrer Spielwiese für minoritäre Bedürfnisse gemacht. Gender-WCs sind plötzlich wichtiger als Arbeitsplätze und intakte Schulen. Der grundsätzliche Fehler von Linken, Liberalen und Minderheiten-Lobbyisten ist es, Allgemeinpolitik mehr und mehr auf identitätspolitische Fragen zu reduzieren. So sieht es auch Mark Lilla, Professor für Ideengeschichte an der Columbia-Universität in einem Artikel für die New York Times. Die Konzentration auf Minderheiten wie Latinos, Schwule, Lesben etc. sei an den Themen der Mehrheiten vorbei gelaufen: Arbeit und Arbeitsplatzverlust, sozialer Abstieg, Vernachlässigung der Infrastruktur. Das gilt nicht zuletzt für eine abgehobene Sexismusdebatte.

Die politische Diskussion hat sich in den letzten Jahren pervertiert: Während Fragen, die die Massen betreffen, allenfalls noch peripher angestoßen werden, stehen im Vordergrund einigermaßen abseitige Themen für verschwindend geringe Minderheiten: Einer deutschen Bischöfin zufolge beleidigen Kreuze Muslime. Sie schlug zudem vor, in den protestantischen Kirchen die Richtung nach Mekka auszuschildern. Eine Diskussion, ob in Kirchen christliche Weihnachtslieder nicht als Beleidigung für Muslime aufgefasst werden könnten, gibt es ja schon seit Jahren.

Studierende verlangen, dass „Werke von toten, weißen europäischen Männern“ nicht mehr unterrichtet werden. Statt Kant und Voltaire wollen sie „weibliche und außereuropäische Autoren“ kennenlernen. Die Political Correctness ist erbarmungslos; sie macht auch vor Rechtschreibung und Sprache nicht halt. Allen Ernstes wird – so bei Wikipedia – aus Lehrling, Flüchtling und Raufbold: Lehrlingin, Flüchtlingin und Raufboldin. Nicht nur wird das Binnen-I durchgesetzt – zumindest im politisch-akademischen Bereich –, sondern – umwillen kleinster Minderheiten wie Transsexueller – auch die Verwendung von Sternchen. Von behinderten Menschen darf man nicht mehr sprechen; überlegt wird, ob Alte noch alt genannt werden dürfen oder ob vielleicht „Senioren“ nicht angebrachter wäre. Von „schwer erziehbaren Kindern“ zu sprechen, ist auch nicht mehr kommod. Die österreichische Zeitung Die Presse bemerkt mit einigem Sarkasmus: „Zuerst durfte man die lieben Jugendlichen, die andere halb tot prügeln, verhaltensauffällig nennen; jetzt darf man diese Jugendlichen, die selbst ihre Lehrer bedrohen, nur noch verhaltensoriginell nennen“. Die Idiotie der Sprachzensur geht bis ins Kulinarische: Negerkuss, Mohrenkopf, Zigeunerschnitzel – alles verpönt. Immer öfter fragen Bürger geradezu bang: „Darf man das heute noch sagen?“

Armin Laschet, einer der Vorsitzenden der CDU, mahnt: „Wieder Politik für Menschen machen, die jeden Tag arbeiten gehen“. Das ist sicher eine richtige Erkenntnis, aber es dürfte eine weitere Sprechblase eines weiteren Politikers sein. Und auch das nervt die Menschen. Die Machtkaste kriegt das alles in ihrer Abgehobenheit gar nicht mehr mit. Wer fährt von diesen Herrschaften schon mal Tram, U-Bahn oder geht in den Supermarkt? Dementsprechend zeigt sich der Habitus der Machtkaste: unempathisch, arrogant, tiefgekühlte Emotionen, der ewig grinsende Draghi, der kaltschnäuzige Lawrow, der peinlich alle umarmende Juncker. Das wirkt zunehmend abstoßend. Die Folge sind denn enorme Verwerfungen im politischen Spektrum. In seinem Buch «Rückkehr nach Reims» beschreibt der Soziologe Didier Eribon, wie er nach langer Abwesenheit nach Reims zurückkehrt und feststellen muss, dass seine traditionell kommunistische Familie nun den Front National von Marine Le Pen wählt. Eribon erklärt diesen drastischen Wandel mit dem Versagen der Linken, deren «Staatsintellektuelle» sich nicht mehr für das Leben der „einfachen“ Bevölkerung interessierten. Diese Erkenntnis hätte nun nicht unbedingt jenen Hype verdient, den sie allenthalben ausgelöst hat. In seiner kleinen Schrift „Was ist Klassenbewusstsein?“ hat Wilhelm Reich die Realitätsferne politischer Funktionäre schon 1934 deutlich herausgearbeitet. So notierte er: „Während wir den Massen grossartige historische Analysen und ökonomische Auseinandersetzungen über die imperialistischen Gegensätze vorlegten, entbrannten sie für Hitler aus tiefsten Gefühlsquellen“.

Eine Konsequenz der „top-down“-Politik ist die sinkende politische Partizipation. Europaweite Umfragen ergeben, dass nahezu drei Viertel der Bürger finden, dass die Spitzenpolitiker die Sorgen der Bevölkerung nicht ernst genug nehmen. Folgerichtig sinkt die Wahlbeteiligung seit Jahren signifikant, und es ist symptomatisch, dass sie dort wieder steigt, wo Trump, Le Pen und die AfD poltern. Die Volksparteien verlieren Mitglieder, und zwar rasant. Die politischen Programme der Parteien unterscheiden sich kaum noch. Politikwissenschaftler wie die belgische Professorin Chantal Mouffe haben solche Entwicklungen kommen sehen. Zu den Populisten von rechts und links bemerkt Mouffe: „In beiden Fällen haben wir es mit einer tiefen Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung zu tun. Wenn heute so viele auf die Straße gehen … so tun sie es deshalb, weil sie das Vertrauen in die traditionellen Parteien verloren und das Gefühl haben, sich über die traditionellen politischen Kanäle kein Gehör verschaffen zu können“. Um in Politik involviert zu werden – so Chantal Mouffe –, müssten die Bürger das Gefühl haben, dass echte Alternativen zur Wahl stünden. Große Koalitionen und Konkordanz beförderten dieses Gefühl nicht, ganz im Gegenteil. Doch Alternativen fehlen. In Deutschland werden Lösungen systematisch vertagt. In Berlin ist die SPD seit fast drei Jahrzehnten ununterbrochen an der Regierung. Nach der letzten Wahl im vergangenen Jahr schrieb der Berliner Tagesspiegel: „Ist irgendwas Nennenswertes in dieser Stadt in diesen 27 Jahren besser geworden? Bildung/Schulen/Kitas, Verwaltung/Bürgerämter, Infrastruktur/Straßen(Brücken, ÖPNV…??“. Die Frage ist rein rhetorisch gemeint. Wer Konflikte und Probleme – so Chantal Mouffe – unter den Teppich kehre oder durch „Dethematisierung“ beschweige, der treibe die Menschen auf die Straße.

Die Mächtigen waren schon immer arrogant: Es sei an Konrad Adenauers berühmten Satz erinnert: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“. Was sich heute entscheidend verändert hat, ist, dass sich das Volk immer weniger gefallen lässt. Die Demokratisierung der Informationsmittel bewirkt, dass die Menschen viel besser Bescheid wissen als früher, dass sie mehr Vergleichsmöglichkeiten haben und dass sie darüber Lügen und Beschönigungen der Politiker selber aufdecken können. Und nicht nur das: sie können auch reagieren. Jeder kann heute die Möglichkeit wahrnehmen. sein eigenes Medium zu sein: mit einer Homepage, mit Twitter, Facebook etc.

Der französische Soziologe Alain Touraine hat schon vor geraumer Zeit ein Buch mit dem prophetischen Titel geschrieben: „Le retour de l´ acteur“. Jetzt ist der Akteur zurück; das Volk muckt auf – überall und mehr und mehr. Es lässt sich auch anders formulieren: Der große amerikanische Country-Sänger Woodie Guthrie hat 1956 das wunderschöne Lied geschrieben: „This Land is your Land“. Bernie Sanders hat im US-Wahlkampf wieder an ihn erinnert, während Hillary Clinton ebenso unsensibel wie kontraproduktiv die Pop-Titanen aus New York und Hollywood aufgeboten hatte. „Dieses Land ist dein Land, dieses Land ist mein Land. … Dieses Land wurde geschaffen für dich und mich“.

 

Bearbeiteter Ausschnitt aus:

Walter Hollstein,

Das Gären im Volksbauch. Warum die Rechte immer stärker wird.

NZZ Libro Basel Februar 2020, Taschenbuch, 208 Seiten, 1. Aufl., ISBN 978-3-03810-477-3, *24,90 CHF (Print), *19,90 CHF (E-Book).

 

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