Beschreibung
Das Testament des Abbé Meslier (1664 – 1729) ist ein vergessenes Dokument aus der Vorgeschichte der bürgerlichen Revolution. Im Zeitalter Ludwigs XIV. nimmt hier ein von allen literarischen und wissenschaftlichen Strömungen isoliert in den Ardennen lebender Pfarrer die radikalsten Thesen des aufklärerischen Materialismus vorweg. Alles Bestehende – Herrschaft und ihre Verklärung in Religion, Philosophie und Moral – verfällt schärfster Kritik. Das Testament ist eine politische Abrechnung mit dem Feudalabsolutismus zu einem Zeitpunkt, zu dem dessen Sturz historisch bereits fällig, aber noch nicht als Ziel in das objektive Bewusstsein der Epoche eingegangen war.
In der Geschichte der Aufklärung und des Materialismus spielte das Testament die Rolle einer unterirdischen Quelle. Seine authentische Gestalt wurde erst im 19. Jahrhundert veröffentlicht, nachdem es in mehreren handschriftlichen Kopien in den literarischen Kreisen der Aufklärung zirkuliert war. Dennoch war Meslier nicht mehr als ein Name, hinter dem sich Unerhörtes verbarg, dessen Werk aber unauffindbar blieb.
Das Testament wird hier erneut in seinen wesentlichen Teilen in deutscher Sprache vorgelegt. Eine vollständige Ausgabe des mehr als 1000-seitigen Originals war indessen nicht möglich. Daher bot sich sachlich eine Edition nach den Schwerpunkten des Meslierschen Denkens an. Die Ausgabe ist so angelegt, dass der ursprüngliche Zusammenhang gewahrt bleibt und dennoch die zahlreichen Wiederholungen gestrichen werden konnten.
In der 53-seitigen Einleitung unter der Überschrift: „Emanzipatorischer Atheismus als Alternative. Zur aktuellen Bedeutung von Jean Mesliers radikaler Herrschafts- und Religionskritik“ stellt Hartmut Krauss den aktuellen Bezug zu dieser Schrift her.
Die weltweiten Aufwallungen des Religiösen treffen auf eine besorgniserregende Selbstvergessenheit in weiten Teilen des spätmodernen Kulturbetriebs, der zunehmend seine säkular-humanistischen Wurzeln verrät und missachtet. Verführt durch den pompös inszenierten Medienkatholizismus und als Kontrast zur Marktanbetung im Wirtschaftsteil lesen sich die postmodern verbildeten Feuilletons mittlerweile wie eine Ansammlung von Bewerbungsschreiben für kirchliche Huldigungsblätter.
In Form der gewalttätigen Kollision zwischen dem fundamentalistisch inspirierten US-Kapitalismus und der islamistisch entzündeten muslimischen Herrschaftskultur erleben wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem aber erneut eine weltpolitisch bestimmende Konfrontation zwischen religiös ausgerichteten Herrschaftsträgern und -aspiranten. Zunehmend wird deutlicher, dass religiöse Glaubensformen nach wie vor als desorientierende Bedeutungssysteme wirken, die menschliche Widerspruchs- und Krisenerfahrungen in eine regressive, reaktionäre und selbstzerstörerische Richtung lenken.
Vor diesem Hintergrund ist der Nachlasstext von Jean Meslier, der mit dieser Neuveröffentlichung nun wieder in deutscher Sprache zugänglich gemacht wird, keinesfalls ’nur‘ von rein geistesgeschichtlichem Interesse, sondern von brennender Tagesaktualität.
Mesliers Testament zeichnet sich dadurch aus, dass hier zum ersten Mal in umfassender und systematischer Weise radikale Herrschaftskritik und radikale Religionskritik eine ‚organische‘ Verbindung eingehen. Im Grunde beginnt mit dieser kritischen Offenlegung religiöser und gesellschaftlicher Herrschaftssynthese der ‚eigentliche‘ sozial- und subjektemanzipatorische ‚Diskurs der Moderne‘.
Inhalt
Hartmut Krauss (Hrsg.)
Emanzipatorischer Atheismus als Alternative.
Zur aktuellen Bedeutung von Jean Mesliers radikaler Herrschafts- und Religionskritik
Editorische Notiz
1. Vorrede: Die Absicht des Werkes
2. Gedanken und Ansichten des Autors über die Weltreligionen
3. Alle Religionen sind nichts als Irrtümer, Einbildung und Betrug
4. Erster Beweis für die Eitelkeit und Falschheit der Religionen, die allesamt nur menschliche Erfindungen sind
5. Weshalb die Politiker sich der Irrtümer und der Täuschungen der Religionen bedienen
8. Der Ursprung des Götzendienstes
9. Zweiter Beweis für die Eitelkeit und Falschheit der in Rede stehenden Religionen. Der Glaube, der allen Religionen als Grundlage dient, ist nichts als blinde Gläubigkeit und das Prinzip allen Irrtums, aller Illusionen und allen Betrugs
10. Der Glaube ist darüber hinaus auch noch eine Quelle und unselige Ursache von Unfrieden und ewiger Zwietracht unter den Menschen
14. Über die Unzuverlässigkeit der sogenannten Heiligen Schrift, die gefälscht und immer wieder verändert wurde
16. Die sogenannte Heilige Schrift weist nicht die geringste Spur von Wissenschaft oder gar von mehr als menschlicher Weisheit auf
17. Über die Widersprüche in den Evangelien
29. Fünfter Beweis für die Eitelkeit und Falschheit der christlichen Religion anhand der Irrtümer ihrer Lehre und ihrer Moral
30. Erster Irrtum ihrer Lehre, der die Dreifaltigkeit eines einzigen Gottes zum Inhalt hat
31. Zweiter Irrtum, die Fleischwerdung Gottes zum Menschen betreffend
32. Über Geist und Persönlichkeit Jesu Christi
33. Über seine Predigten
34. Das Christentum war in seinen Anfängen nichts anderes als ein niederträchtiger und verachtenswerter Fanatismus
35. Dritter Irrtum der christlichen Lehre: Götzendienst und Anbetung von Göttern aus Teig und Mehl in dem sogenannten Heiligen Sakrament
36. Vergleich der Weihe der Götter aus Teig und Mehl mit der Weihe von Göttern aus Holz und Stein oder Gold und Silber, die von den Heiden verehrt werden
38. Vierter Irrtum, der die Erschaffung des ersten Menschen und die Erbsünde zum Inhalt hat
39. Fünfter Irrtum über die angebliche Lästerung und Beleidigung, welche die Menschen mit ihren Sünden Gott antun; über seinen angeblichen Unwillen und seinen Zorn, die sie dadurch erregen, und über die zeitlichen und ewigen Strafen, die er deshalb über sie verhängt
40. Die drei grundlegenden Irrtümer der christlichen Moral
41. Sechster Beweis für die Eitelkeit und Falschheit der christlichen Religion, hergeleitet aus den Mißbräuchen, den rechtswidrigen Drangsalierungen und der Tyrannei der großen Herren, die sie duldet oder gar rechtfertigt
42. Erster Mißstand: das große und ungeheure Mißverhältnis der Rangordnungen und Stände der Menschen, die von Natur aus alle gleich sind
43. Vom Ursprung des Adels
44. Zweiter Mißstand, den die christliche Religion zulässt und rechtfertigt und der darin besteht, daß es so viele Arten von Rängen und Ständen fauler Leute gibt, oder solcher, deren Beschäftigungen von keiner Nützlichkeit auf dieser Welt sind, von denen einige nur dazu dienen, das Volk auszupressen, auszuplündern, zu unterjochen und zugrundezurichten
45. Ein weiterer Mißstand, der darin besteht, daß die christliche Religion so viele Geistliche und namentlich so viele unnütze Mönche duldet und zuläßt
46. Ebenso ist es ein Mißstand zu dulden, daß diese Leute so viele gewaltige Reichtümer besitzen, obwohl sie Armut geloben
47. Ein weiterer Mißstand: daß sie so viele Bettelmönche duldet, die doch arbeiten und sich selbst ernähren könnten
48. Der dritte Mißstand besteht darin, daß die Menschen sich die Güter der Erde als Einzelne aneignen, anstatt sie gemeinsam zu genießen, was eine Unzahl von Übeln und ungeheures Elend auf der Welt hervorbringt
49. Weiterer Mißstand: die eitle und beleidigende Unterscheidung in Geschlechter und von den Übeln, die daraus erwachsen
50. Über den Mißstand, der von der Unauflöslichkeit der Ehe herrührt, und die Übel, die er mit sich bringt
51. Über den großen Nutzen und die großen Vorteile, die alle Menschen davon hätten, wenn sie friedlich zusammenlebten und alle gemeinsam die Annehmlichkeiten und Gaben des Lebens nutzten
52. Die Gemeinschaft der ersten Christen ist heutzutage bei ihnen abgestorben
53. Der Mißstand der Willkürherrschaft der Könige und Fürsten auf der ganzen Welt
54. Über die Gewaltherrschaft der Könige Frankreichs, die ihr Volk elend und unglücklich macht
59. Siebter Beweis für die Eitelkeit und Falschheit der Religionen, gewonnen aus der ebenso falschen Überzeugung der Menschen, die an die Existenz von Göttern glauben
64. Weder die Schönheit, noch die Ordnung, noch die Vollkommenheit der Werke der Natur sind auch nur der geringste Beweis für die Existenz eines Gottes, der sie geschaffen haben soll
66. Es ist unnütz, auf die Existenz eines allmächtigen Gottes zurückzugreifen, um die Natur und die Entstehung der natürlichen Dinge zu erklären
67. Das Sein, Raum und Zeit, wie auch die Ausdehnung können nicht geschaffen sein, und folglich gibt es auch keinen Schöpfer
68. Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Dinge hängt nicht im geringsten vom Willen oder der Macht irgendeiner anderen Ursache ab
69. Auch die ersten und grundlegenden Wahrheiten sind ewig und hängen von keiner anderen Ursache ab
70. Die Schöpfung ist unmöglich und nichts kann geschaffen worden sein
71. Das Sein oder, was dasselbe ist, die Materie kann nur aus sich selbst Existenz und Bewegung erhalten haben
81. [Zum Begriff der Kausalität]
96. Schlußfolgerungen aus diesem ganzen Werk
97. Der Autor legt Berufung wegen Gewaltmißbrauchs ein gegen alle Beschimpfungen, schlechte Behandlungen und alle unrechtmäßigen Verfahren, die man gegen ihn nach seinem Tode einleiten könnte, und er legt seine Berufung wegen Gewaltmißbrauchs allein bei dem Tribunal der unfehlbaren Vernunft, vor allen vernünftigen und aufgeklärten Menschen ein und lehnt als Richter in dieser Sache alle Unwissenden, alle Frömmler, alle Anhänger und Begünstiger von Irrtum und Aberglauben ab, ebenso wie alle Schmeichler und Günstlinge der Tyrannen und alle diejenigen, die in ihrem Solde stehen