Reaktionärer und progressiver Konservatismus im Spannungsfeld zwischen „Rechts“ und „Links“

 In Spätkapitalistische Systementwicklung

Wer weltanschaulich-politische Richtungsbegriffe näher begreifen und erklären will, kommt nach wie vor um eine Definition der bipolaren Rechts-Links-Semantik nicht herum. Das gilt heute angesichts der zunehmenden politisch-medialen Bezeichnungswillkür und der dadurch erzeugten desorientierenden Bedeutungsverschiebungen im Kontext der postmodernen Demontage wahrheitsorientierter wissenschaftlicher Analysestandards mehr denn je.

Halten wir deshalb zunächst Folgendes fest:

Als heftig umkämpfte weltanschaulich-politische Richtungsbegriffe reflektieren die Bezeichnungen „rechts“ und „links“ im Wesenskern zwei gegensätzliche Grundauffassungen, wie sie sich nach der Überwindung der feudalen Gesellschaftsordnung in Europa im Anschluss an die französische Revolution herausgebildet haben. Im Zentrum steht hierbei das subjektive Verhältnis zu vorgegebenen (überlieferten) Strukturen zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse:

„Rechts“ bezeichnet das subjektive (Klassen-)Interesse an der Aufrechterhaltung/Bewahrung (Konservierung) bzw. Wiederherstellung oder gar Vertiefung und Perfektionierung überlieferter zwischenmenschlicher Herrschafts- bzw. hierarchisch-ständisch gegliederter Sozialbeziehungen. Dabei spielen immer die Verteidigung bzw. Rückeroberung „angestammter“ Vormachtpositionen und Privilegien etc. einschließlich der darauf gerichteten Legitimationsideologien, Ethiken, Moralkonzepte etc. eine wesentliche Rolle. In klassischer Form geht es hierbei um die Verteidigung/Restauration einer vormodernen Herrschaftsordnung mit einer religiös-absolutistischen Legitimationsideologie. Mit dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus und der Etablierung expansiver kapitalistischer Systeme (Kolonialismus, Imperialismus) treten dann – an die Stelle ständisch-feudaler Herrschaftsideologie und neben die religiöse Legitimation – ‚Nation‘, ‚Ethnie‘ und ‚Rasse‘ als neue herrschaftsfundierende Konzepte. Das rechte Konzept nach der Etablierung der kapitalistischen Moderne lautet nun: Rekonstruktion bzw. totalitäre Perfektionierung autoritär-hierarchischer Sozialbeziehungen mit modernen Mitteln, aber im weltanschaulichen bzw. geistig-moralischen Horizont vormoderner antiegalitärer Herrschaftsideologie und in scharfer Negation der Grundprinzipien der kulturellen Moderne[1].

„Links“ bezeichnet hingegen das subjektive Streben nach der Überwindung/Veränderung der vorgefundenen Herrschaftsverhältnisse im Interesse der individuellen und kollektiven Emanzipation bzw. Befreiung aus beherrschten, ausgebeuteten, unterdrückten, chancenungleichen etc. Lebenspositionen. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Erzeugung und Aneignung neuer/kritischer geistig-moralischer Leitkonzepte und praktisch-kritischer Tätigkeitsformen. Von herausragender Bedeutung war hier die Entwicklung einer aufklärungshumanistischen Weltanschauung im Kontrast zur traditionellen christlich-feudalen Legitimationsideologie der Adelsherrschaft und als Grundlage für eine kritisch-rationale Wissenschaftsentwicklung. Am treffendsten und tragfähigsten hat dann Karl Marx den „linken Impetus“ auf den Begriff gebracht: „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx 1988, S. 385). Damit ist ein universalistisch (transkulturell) ausgerichteter herrschaftskritisch-emanzipatorischer Humanismus als „klassisch-linke“ Leitorientierung anzusehen. Diese bildet den unverrückbaren Widerpart insbesondere auch gegenüber allen nichtwestlich-vormodernen Herrschaftssystemen und Legitimationsideologien[2].

Vor diesem definitorischen Hintergrund lässt sich nun der Konservatismus – abgeleitet vom lateinischen Verb ‚conservare‘ = erhalten/bewahren – zunächst abstrakt-allgemein als eine weltanschaulich-politische Position bestimmen, der es um die Bewahrung/Erhaltung des Gegebenen, Altbewährten, Tradierten oder um deren Wiederherstellung unter veränderten Bedingungen geht.

Richtet sich die konservative Intention auf die Bewahrung/Erhaltung gegebener/tradierter gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen, so handelt es sich um „Strukturkonservatismus“. Da es dabei bei näherer Betrachtung um den Willen zur Erhaltung oder Wiederherstellung von (ökonomischen, politischen und legitimationsideologischen) Herrschaftsstrukturen geht, haben wir es mit „Rechtskonservatismus“ zu tun. So tritt der klassische (Rechts-)Konservatismus als Gegner der Aufklärung sowie der Französischen Revolution und Verteidiger des Ancien Régime bzw. der christlich-religiös legitimierten Feudalordnung auf, die als „natürliche Ordnung“ verklärt wird. Dieser ideologische Hang zur Naturalisierung in Verbindung mit der Anthropologisierung und Enthistorisierung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse gehört fortan zum Signum des Rechtskonservatismus und bringt ihn auch immer wieder in Konflikt mit dem wertenihilistischen Innovatismus der Kapitalakteure[3].

Richtet sich die konservative Intention auf die Bewahrung/Erhaltung überlieferter ideeller Güter (Ideen, theoretische Konzepte, Normen, Werte etc.), so handelt es sich um „Wertekonservatismus“. Dieses Bestreben kann mit der rechtskonservativen Intention zusammenfallen, muss es aber nicht. Nämlich dann nicht, wenn es sich um die Bewahrung/Erhaltung und Weiterentwicklung/Anwendung unabgegoltener (uneingelöster) Ideen, Theorien, Werte und Prinzipen handelt, die auf die emanzipatorische Überwindung fortbestehender ökonomischer, politischer und ideologischer Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse ausgerichtet sind. So haben die praktisch-kritisch aktiven Teile der beherrschten und ausgebeuteten Volksmassen in jeweils konkret-historischen Kämpfen gegen die unterdrückenden Gewalten ein Ensemble von Ideen, Theorien, Programmen, vergegenständlichten Erfahrungen in Romanen, Bildern, Liedern etc. als „Zweite Kultur“ hervorgebracht, das die Grundlage für ein tradierbares und aneignungsfähiges „revolutionäres Sozialerbe“ bildet, an das angeknüpft und das weiterentwickelt werden kann. Das gilt gerade auch heute angesichts der globalen Koexistenz und Verflechtung moderner (kapitalistisch-marktreligiöser) und vormoderner (totalitär-gottesreligiöser) Entfremdung.

D. h.: Es gibt selbstverständlich einen linken bzw. progressiven Wertekonservatismus, der sich insbesondere auf die Leitprinzipien oder besser: auf das revolutionäre geistig-kulturelle Sozialerbe der herrschafts- und religionskritischen (Radikal-)Aufklärung sowie der anschließenden herrschaftskritischen Theorieentwicklung bezieht und dieses wissenschaftlich-analytische und normative Fundament sowohl gegen die strukturkonservative Rechte und die neoliberal-wertenihilistischen Träger des globalkapitalistischen Herrschaftssystems als auch gegen die postmodern-antiaufklärerische Pseudolinke zur Geltung bringt. Dabei hat sich längst herausgestellt, dass diese Scheinlinke lediglich als korrumpierter Gehilfe des regressiven Innovatismus[4] fungiert, wie er von der spätkapitalistischen Globalisierungselite kommandiert wird.

Anmerkungen:

[1] Im Einzelnen lassen sich folgende Konstitutionsmomente der kulturellen Moderne anführen: Die Zurückdrängung des theozentrischen Weltbildes bzw. die tendenzielle ‚Entgöttlichung‘ des Mensch-Welt-Verhältnisses; die Entkoppelung von Wissen und Glauben; die Trennung von Politik und Religion sowie die Aufdeckung der herrschaftsideologischen Funktion des Religiösen; die grundsätzlich herrschaftskritische Idee des ‚freien‘, zur ‚Mündigkeit‘ befähigten Individuums; die Erklärung der Menschenrechte; das Prinzip der demokratischen Selbstregierung des Volkes; die Gewaltenteilung; das Prinzip des Rechtsstaats sowie die durchgreifende Säkularisierung der Kategorien Wahrheit, Gerechtigkeit, Tugendhaftigkeit, Schönheit, Glück und ‚gutes Leben‘.

[2] Aktuell herausragend ist in diesem Zusammenhang der Antagonismus zwischen säkular-menschenrechtlicher Lebensordnung und islamischer Herrschaftskultur. Siehe Krauss 2016: https://hintergrund-verlag.de/produkt/saekulare-demokratie/

[3] Aus der Perspektive der dialektischen Negation betrachtet handelt es sich beim rechten Konservatismus um den Willen zur Bewahrung bzw. Restauration des Überlebten, Veralteten, nicht mehr haltbaren Autoritären. Demgegenüber ist der (wirtschafts-)liberale Innovatismus als profitlogisch-utilitaristisches Erneuerungs-/Veränderungsbestreben um jeden (abwälzbaren) Preis durch den – angeblich alternativlosen –Willen zur Zerstörung auch des Bewahrenswerten und in aufgehobener Form Entwicklungsfähigen gekennzeichnet. Zu dieser strukturellen Amoralität des Kapitals siehe: http://www.glasnost.de/autoren/krauss/amoral.html

[4] ‚Regressiver Innovatismus‘ bezeichnet ein Ensemble von intendierten und praktizierten Veränderungen, die zu einer Verschlechterung (Zurückentwicklung) des Gegebenen bzw. zu einem niedrigeren Niveau der gesamtgesellschaftlichen Systemreproduktion führen. Beispiele hierfür wären die Ersetzung säkular-demokratischer Gemeinwesen durch multikulturalistische Postdemokratien mit verfeindeten (normativ gegensätzlichen) zivilgesellschaftlichen Lagerbildungen; die Auflösung nationalstaatlicher Souveränität durch eine supranationale Juristokratie oder der migrationspolitisch bedingte mittel- und langfristige Bildungs- und Kulturverfall mit dem Effekt der Verschüttung und tendenziellen Zerstörung progressiv-humanistischer Identitätsbildung.

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